Das einschneidendste Ereignis von Melissa Etheridges Karriere datiert auf den Januar 1993. Bill Clinton wurde in sein Amt eingeführt, und bei einem Ball in Washington bekundeten zahlreiche homosexuelle Kulturschaffende ihre Unterstützung für den neuen US-Präsidenten. Diesen Rahmen wählte Etheridge, um sich als lesbisch zu outen. Vorher war sie eine talentierte, aber nicht übermäßig erfolgreiche Rocksängerin und Gitarristin; nun war sie auf einmal eine kulturelle Ikone. Ihr persönlich tat das Outing sehr gut, wie sie immer wieder erklärt hat, und auch ihren Verkaufszahlen schadete es nicht: Im September 1993 erschien Yes I Am, ihr bisher erfolgreichstes Album. Seitdem hat Etheridge rund ein Dutzend weitere Alben veröffentlicht und sich zu einer Vielzahl gesellschaftlicher Themen geäußert; so kämpfte sie unter anderem für die rechtliche Glechstellung von LGBT-Menschen, Umweltschutz und die Legalisierung von Marihuana. Am 12.04 erscheint ihr neues Album The Medicine Show (Universal), auf dem sie sich mit dem gesellschaftlichen Klima in den USA unter Donald Trump auseinandersetzt. Vor ein paar Tagen hatte ich Gelegenheit, mit ihr zu telefonieren.
SZ-Magazin: Hat es Sie beschäftigt, dass die Rockmusik ein von Männern dominiertes Genre war, als Sie anfingen, sich dafür zu interessieren – zuerst als Fan, dann als junge Gitarristin?
Melissa Etheridge: Ich habe damals nie gedacht, ich bin ein Frau, ich kann das nicht schaffen. Und ich habe es auch nie als Ausrede benutzt. Wenn ich jetzt zurückschaue, erkenne ich diese Dominanz natürlich schon. Ich glaube allerdings, dass sich da gerade einiges ändert.
Was war das hartnäckigste Vorurteil, mit dem Sie zu Beginn Ihrer Karriere zu kämpfen hatten?
Mit meinem Debütalbum bin ich zu den Radiosendern gegangen und habe gefragt, ob sie es spielen würden. Wir können dich nicht spielen, haben viele geantwortet, wir spielen schon eine Frau.
Die andere Frau!
Ja, für gewöhnlich Stevie Nicks. Im Rock'n'Roll-Radio ist es bis heute selten, zwei Frauen direkt nacheinander zu hören.
Haben die Leute auch bezweifelt, dass Sie selbst Gitarre spielen?
Nein, in diesem Fall war ich selbst die größte Zweiflerin. Ich bin viele Jahre solo aufgetreten und habe mich zwangsläufig eher auf die Rhythmusgitarre konzentriert. Vor zehn Jahren habe ich mich allerdings entschlossen, wieder intensiver an meiner Technik zu arbeiten und mehr Lead zu spielen.
Seit wann sehen Sie sich nicht allein als Musikerin, sondern auch als Aktivistin?
Das ist im Lauf der Zeit einfach passiert. Ich hatte nie das Ziel, eine Aktivistin zu werden. Mein einziges Ziel bestand darin, ein reicher und berühmter Rockstar zu sein. Das war mein Traum. Dann kam allerdings der Punkt, wo ich mich zum Comingout entschloss, was sehr wichtig für mein Privatleben und meine Sexualität war; vorher hatte man einfach ein falsches Bild von mir. So wurde ich plötzlich zur Aktivistin - einfach nur, indem ich ich selber war.
Früher gab es eine enge Verbindung zwischen Rock und Gesellschaftskritik. Ist das immer noch so?
Mich bewegen nicht nur meine eigenen Erlebnisse, sondern auch die Dinge, die draußen in der Welt passieren. Ich rede darüber, stelle Fragen, schreibe Songs und bin dadurch Teil jener Musik, die die Probleme unserer Zeit anspricht. Das sehe ich als meine Aufgabe an.
Sie reden über sich persönlich, aber wie sieht das allgemeine Bild aus? Mein Eindruck ist, dass die gesellschaftliche Kraft der Rockmusik früher wesentlich größer war.
Ich denke, dass die Menschen heute eine große Sehnsucht nach Songs haben, die ihre Herzen und ihren Verstand ansprechen. In den Neunzigern war das schon mal so, Grunge hat vieles in Frage gestellt, zum Beispiel den Materialismus jener Zeit. Im darauffolgenden Jahrzehnt wurde alles etwas oberflächlicher, aber aus dieser Phase kommen wir jetzt wieder heraus.
Ihr neues Album heißt The Medicine Show, hat aber dazu noch einen Untertitel: An Unrivaled True Story Of Redemption And A '74 Fender. Was hat es damit auf sich?
Als ich mir Gedanken übers Cover gemacht habe, habe ich viele alte Poster von Medicine Shows angeschaut, wie sie um 1900 im amerikanischen Westen unterwegs waren. Die Sprache auf diesen alten Postern war sehr farbig und überdreht; das hat mich auf die Idee mit dem Untertitel gebracht. Der erinnert also an diese Zeit, fasst aber inhaltlich das zusammen, worum es auf dem Album geht, nämlich Erlösung und Heilung. Und die 74er Fender Starcaster ist eine meiner Lieblingsgitarren.
»Vieles, was lange verborgen war, kommt nun an die Oberfläche, viele Ängste und viele Probleme, zum Beispiel der Rassismus in den USA. Ich glaube fest daran, dass wir nach oben streben und diese Probleme überwinden werden«
Besitzen Sie das Instrument schon seit den Siebzigern?
Ich wünschte, ich wäre so klug gewesen, mir sie schon damals für 300 Dollar zu kaufen. Nein, die habe ich erst vor drei Jahren erworben, für wesentlich mehr Geld. Ich habe eine ziemlich große Sammlung, das ist eine meiner Lieblingsgitarren.
Welche Medizin brauchen die USA gerade am dringendsten?
Radikale Liebe. Überall auf der Welt sind Furcht und Hass im Aufwind, gerade hat man es wieder bei den schrecklichen Ereignissen in Neuseeland gesehen. Mit radikaler Liebe müssen wir die Welt heilen und ein Verständnis dafür entwickeln, was gut für unsere Gesundheit und unser Glück ist. Wir müssen in eine neue Ära eintreten und lernen, wie wir als Gesellschaft zusammenleben und in der Vielfalt die Einheit finden.
Mehrere Songs auf dem Album handeln von aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen, zum Beispiel von der Betäubungsmittel-Epidemie in den USA und dem Massaker in der High School in Parkland, Florida. Wie entstehen solche Songs? Schauen Sie Nachrichten und werden plötzlich von der Inspiration gepackt?
Das ist ganz unterschiedlich. Der Song »Heal The Pain« über die Betäubungsmittel-Krise hat eine lange Vorgeschichte. Dank meiner Tourneen bin ich viel unterwegs im Land, und da ist es unmöglich, die schrecklichen Verheerungen zu übersehen, die diese Krise verursacht. In Connecticut habe ich zum Beispiel mit einem Sozialarbeiter gesprochen, der mir detailliert geschildert hat, wie die Sucht bei Ihnen ganze Stadtviertel zerstört und wie verzweifelt sie dagegen ankämpfen. Ich habe eine ganze Weile darüber nachgedacht, bis ich schließlich die Idee für den Song hatte.
Und der Song »The Last Hello« über das Schulmassaker von Parkland?
Das geschah im Februar 2018, als ich gerade im Studio war und dieses Album aufnahm. Die Tat hat mich sehr betroffen gemacht. Ich habe Kinder in der Middle School und in der High School, als Mutter ist mir das wirklich zu Herzen gegangen. Und ich bewundere sehr, wie sich die Überlebenden danach geäußert und Druck aufgebaut haben, damit endlich etwas bei den US-Waffengesetzen geschieht. Den Song habe ich also sehr schnell geschrieben, mein Gefühl war, dass das Thema noch auf's Album musste.
Die USA sind gerade der Schausplatz eines sehr unversöhnlich geführten Kulturkampfs zwischen dem konservativen und dem progressiven Lager. Welche Seite wird am Ende die Oberhand behalten?
Unsere letzte Wahl hat ein Mann gewonnen, der kein Problem damit hatte, die Angst vor dem Anderen zu schüren – vor Einwanderern, Religion, Sexualität, allem, was dem weißen Mann fremd vorkommt. Damals mitzuerleben, dass das derart einfach ging und er solchen Erfolg hatte, war extrem niederschmetternd. Seitdem erlebe ich allerdings, wie wir uns intensiv über all unsere Differenzen auseinandersetzen. Vieles, was lange verborgen war, kommt nun an die Oberfläche, viele Ängste und viele Probleme, zum Beispiel der Rassismus in den USA. Ich glaube fest daran, dass wir nach oben streben und diese Probleme überwinden werden. Das hat man zum Beispiel bei den Midterm-Wahlen gesehen, nach denen der US-Kongress nun zum ersten Mal ein Abbild der Vielfalt unseres Landes ist. Ich weiß, dass der Rest der Welt sehr genau beobachtet, wie unsere Demokratie mit dieser Herausforderung umgeht, aber ich bin sicher, dass sie das überstehen wird und dass wir allen zeigen können, wie man solche Differenzen aufarbeitet. Immerhin geht es um die größte Herausforderung, vor der die Welt gerade steht, nämlich wie wir alle zusammenleben können, ohne uns umzubringen.
Der US-Vizepräsident Mike Pence ist ein erbitterter Gegner der LGBT-Bewegung, deren Ikone Sie sind. Nun war zu lesen, dass Pence den homosexuellen irischen Premierminister Leo Varadkar inklusive seines Ehemanns zu sich nach Hause eingeladen hat. Würden Sie auch zu Pence kommen, falls er sie mal einlädt?
Auf jeden Fall. Ich bezweifle aber, dass das je geschehen wird. Dass jemand wie Mike Pence, der sich derart dezidiert gegen LGBT-Rechte ausgesprochen und derart großen Schaden angerichtet hat, nun einen LGBT-Politiker zu sich nach Hause einlädt, ist schon bemerkenswert und wirft die Frage auf, was wirklich dahintersteckt. Ich weiß nicht, ob er seine Ansichten jemals ändern wird, versuche aber immer, an das Gute in den Menschen zu glauben.