Der Oktoberfestbesuch endete mit einem Fahrrad im Bett. Woher es kam, wem es gehörte, warum ich es drei Stockwerke hochgetragen und mit ins Zimmer genommen hatte, wieso das Rad auf der Matratze lag, ich selber aber am Boden – keine Ahnung. Ich vertrage nicht viel Bier. Überraschend war auch die neu eingespeicherte Nummer in meinem Telefon namens »Wiesnbedienung«. Die bemerkte ich erst, als »Wiesnbedienung« am letzten Tag des Oktoberfestes per SMS schrieb: »Morgen Abend feiern die Bedienungen der Festzelte zusammen, ist immer lustig, komm doch vorbei.« Ich blieb daheim, da ich keine Erinnerung mehr hatte, wen ich hätte treffen sollen: Mann? Frau? Alt? Jung? Sollten Sie »Wiesnbedienung« sein, Ihr Rad vermissen und sich an mich erinnern – Sie waren vermutlich nüchtern – rufen Sie mich gerne an.
Ich trinke selten Alkohol und meist nur wenig – aber das Adressbuch meines Handys ist voll rätselhafter Telefonnummern. Wen habe ich als »Clown« abgespeichert? Wen als »der große«? Und kenne ich wirklich »Bruce Wayne«? Schleierhaft sind mir auch: »HUSSEL«, »Kioskmann«, »CSU« (mit 030 als Vorwahl), »bretzn« oder »Großer Basar« (mit 14-stelliger Nummer). Meine mysteriösen Favoriten sind: »hocusfocusbirgit«, »Anruf unbekannt«, »F.Beckenbauer«, »dingsbums« und »roteHaaregelbe SchuhMann«.
Vielleicht geht das nur mir so, dachte ich. Aber Freunde und Bekannte kennen das Phänomen: Nicht jeder, aber die meisten haben Rufnummern in ihrem Adressverzeichnis, die ihnen rätselhaft sind. Eine Kollegin, die seit 15 Jahren dieselbe Handynummer besitzt, hat beim Durchscrollen des Adressverzeichnisses gefunden: »Alex total wahnsinn«, »Bob Mexiko«, »Bob Thailand«, »Bob Thailand forever«, »Briefmarken mobil«, »Karim call me as soon as possible«, »Tom & Jerry«, »Nummer«, »Nummer 2«. Mit »Alex total wahnsinn« hat sie sich über Wochen sehr lustige SMS hin- und hergeschrieben, sie dachte, das wäre die Freundin einer Freundin, die ihr sehr sympathisch war. Als man sich auf einen Kaffee traf, stellte sich die Alex als der Alex heraus, der Blumen dabeihatte. Ein Mannschaftskollege vom Fußball hat beim Nachsehen die ihm unerklärlichen Rufnummern von »Grönemeyer 2«, »Doktor kein Arzt«, »sascha neonazi« und »penis« gefunden. Ein Nachbar hat »Lisa_Simpson« im Handy, er fragt sich auch, wer »nullsummenspiel« und »reichenbachfeuerzeugausleiher« war.
Im Frühjahr hat mein Handy geklingelt, ein älter klingender Mann war daran, der etwas verlegen und leicht verwirrt fragte, wer ich sei, er habe da diese Nummer im Telefon … dann erkannte ich die Stimme von Wolfgang Joop. »Ich habe Sie vor einem Jahr interviewt, Herr Joop, die Nummer können Sie jetzt löschen«, sagte ich, er stammelte »Ach so, ja« und legte auf.
Manche Nummer lässt sich erahnen: »CSU«, »F.Beckenbauer« und »hocusfocusbirgit« (Focus) kann man als Journalist schon mal im Handy haben. Andere versuche ich mir herzuleiten: Als »Clown« bezeichne ich Wichtigtuer. Habe ich also die Nummer eines schwer erträglichen, aber doch irgendwie für mein weiteres Leben relevanten Gesprächspartners aufgeschrieben? (Echte Clowns habe ich leider nie kennengelernt, das wüsste ich.) Und was wollte ich von »Clown«? War es wichtig? Ich möchte nicht einfach anrufen und sagen: »Hallo, ich habe mir diese Nummer irgendwann in den letzten zehn Jahren aufgeschrieben, keine Ahnung, wer Sie sind, aber ich glaube, es war wichtig.« Darum warte ich weiter auf Nachricht vom Clown.
Die Nummern von »Alexander«, »alex«, »Alex« und »Aleks« kriege ich halbwegs zum jeweiligen Nachnamen zugeordnet, ich bin nur zu bequem, die mal nachzutragen. Dafür riskiere ich Verwechslungen: Während eines Auswärtssemesters in London habe ich ein Wochenende mit dem eigentlich falschen Sven verbracht, weil die SMS »Besuch mich doch mal hier« nicht an den sehr guten Freund »Sven« sondern an den nur guten Freund »sven« ging, der umgehend antwortete: »Klar! Wir haben uns eh ewig nicht mehr gesehen, es gibt günstige Flüge.« Wer bringt es da über das Herz »Sorry, falsche Nummer« zu antworten? Dann lieber Stadtrundfahrt und Pubtour mit »sven«.
Warum schreibt man überhaupt seltsame Abkürzungen wie »brk fsj« (steht für »Bayerisches Rotes Kreuz« und »Freiwilliges Soziales Jahr«) oder Beschreibungen wie »der große« auf? Wahrscheinlich, weil man es eilig hatte. Oder den Namen des anderen nicht verstanden hat und nachzufragen unangenehm gewesen wäre. »Erste Reihe« in meinem Mobiltelefon ist zum Beispiel ein ehemaliger Mitschüler, dem ich zwanzig Jahre später auf der Straße begegnete, wo er mich mit »Mensch, Marc!« begrüßte und mir trotz verzweifelten Nachdenkens nicht mehr einfallen wollte, wie er hieß – nur wo er immer gesessen hatte, wusste ich noch. Wir haben Telefonnummern ausgetauscht und beide gesagt, dass es doch nett wäre, sich mal zu treffen. Zu Hause haben wir es uns beide anders überlegt.
Gelöscht habe ich »Erste Reihe« dennoch nicht. Die vielleicht zwanzig mir unbekannt gewordenen Rufnummern stören mich nicht weiter, der digitale Adressspeicher ist groß genug. Vor allem aber sehe ich mein Telefon wie eine Art Tagebuch, das beim Durchscrollen vergessene frühere Bekannte und dazugehörige Erinnerungen hervorholt: Am Elbstrand nach der Arbeit sitzen mit »Mitpraktikant Spiegel«, die vielen zusammenschweißenden Niederlagen mit »Isar-kicker2003«, mit »Surf_Kalifornien_Henner« der Sonnenaufgang am Manresa State Beach. Ihre Handynummern haben sie bestimmt längst gewechselt, würde ich anrufen, wäre jemand anders dran.
Als ich vor drei Jahren von einem iOS-Handy auf ein Android-Modell gewechselt bin, habe ich die Nummern einzeln übernommen, das Synchronisieren klappte nicht. Aber das war es mir wert. Es wird nur langsam kompliziert: Neben Handynummern gibt es ebenso verwirrende E-Mail-Adressen (»digginatthefunk@...«), WhatsApp-Kontakte (»buhne 16«), Skype-Namen (»dalaimama«), Snapchat-Adressen (»ray.himmelreich«).
Ich sollte mir eine dieser Apps besorgen, die den Aufenthaltsort von Handykontakten auf einem Stadtplan anzeigt. Dann könnte ich herausfinden, ob das F in »F.Beckenbauer« für den Franz oder nur einen Fritz oder Fridolin steht. Und »Wiesnbedienung« werde ich bald anrufen, Ende September, an einem sonnigen Samstagnachmittag, von der Theresienwiese aus. Mal fragen, wie es ihm oder ihr so geht und ob man sich nicht mal treffen möchte, im wegen Überfüllung geschlossenen Bierzelt, ich stünde grad schon davor.
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