REMO LARGO ist der bekannteste Kinderarzt der Schweiz. Der Wissenschaftler und Autor („Babyjahre“) hat drei Töchter und bedauert, dass Lehrer heute Schüler wollen, die keine Probleme machen: Mädchen.
SZ-Kinderleben: Herr Largo, warum haben Jungs es heutzutage in der Schule schwerer als Mädchen?
Remo Largo: Die Frage ist vor allem: Warum ist das ein Problem? Es ist
ja schon länger so. In den Achtzigerjahren gingen gleich viele Knaben und Mädchen in Schweizer Gymnasien, aber die Anforderungen bei der Aufnahme an Mädchen und Knaben waren nicht dieselben. Dann kam ein Bundesgerichtsurteil, das die Kantone zwang, gleiche Richtlinien für Jungen und Mädchen zu haben – und seither läuft es schief: Es sind 60 Prozent Mädchen an Gymnasien. Also wurden Jungen weniger streng beurteilt als Mädchen? Gab es das in Deutschland auch?
Ich vermute es. Jungen sind in jedem Alter unreifer. Mädchen waren selbst dann besser in der Schule – vor den Siebzigern –, als sie nicht aufs Gymnasium sollten oder wollten. Nach Geschlechtern getrennte Schulen haben die Unterschiede ebenfalls verdeckt.
Aber Mädchen sind doch nicht klüger?
Nein, aber systemkonformer. Angepasster. Wie man das bewerten will, hängt von der erzieherischen Haltung ab. Das kann auch ganz angenehm sein, oder? Aber nun haben wir ja mehrheitlich Frauen als Lehrer an den Grundschulen. Und ich vermute, diese Anpassungsfähigkeit trifft auch auf sie zu. Sie hinterfragen das System kaum – zum Nachteil der Kinder.
Liegt es in der Natur der Frau, ein System nicht zu hinterfragen?
Ich sage ausdrücklich: Es ist eine Vermutung. Aber durch Familie und Teilzeitarbeit haben viele Frauen gar nicht mehr die Energie aufzubegehren. Ich würde mir eine Emanzipation diesbezüglich wünschen. Denn die guten Reformen kommen nicht von oben, sie müssten von
unten kommen.
Wie sollen Reformen aussehen?
Ich bin davon überzeugt, dass man nicht lehren kann ohne Beziehung. Darüber redet aber kein Mensch. Vielen Kindern geht es nicht gut in der Schule, weil sie nicht wahrgenommen werden, und es ist erstaunlich, dass sie das überhaupt aushalten. Wir alle wissen doch, was einen guten Lehrer ausmacht: Er stellt eine Beziehung zu den Kindern her.
Nun haben Kinder in der neunten Klasse ungefähr 14 Lehrer.
Das ist eine Katastrophe. Da muss man sich schon mal überlegen, wie viele solcher Bezugspersonen tragbar sind.
Leiden Jungs besonders unter solchen Verhältnissen?
Es wird heute so viel Leistung wie möglich mit so wenig Konflikt wie möglich erwartet. Lehrer wollen Kinder, die angepasst, ordnungsliebend, fleißig, zuverlässig sind, die erzieherisch keine Probleme machen. Und das sind tendenziell eher Mädchen.
Haben Jungs Eigenschaften, die negativ bewertet werden?
Sie sind aufwendiger, auch in den Familien. Sie haben mehr erhaltensauffälligkeiten. Sie sind etwas aggressiver, und körperliche
Aggressivität ist in unserer Gesellschaft negativ besetzt. Wir sind weit davon entfernt zu akzeptieren, dass eine gewisse körperliche Aggressivität zu diesem Geschlecht gehört. Wir müssen uns fragen: Wie können die Jungen diese Aggressivität sinnvoll ausleben?
Früher wurde Aggression noch als Stärke betrachtet, oder?
Ein Problem ist: In den letzten dreißig Jahren haben wir die Kraft technisiert. Hier hinten im Wald haben früher zehn Männer gearbeitet. Jetzt werden Bäume gefällt, entrindet, verladen – von ein oder zwei Personen. Was wird aus den Männern, die dank ihrer physischen Kraft Arbeit hatten? In einer Wissens-, Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft spielen Kommunikation und Sozialkompetenz
eine große Rolle, da sind Frauen im Vorteil.
Also werden Frauen bald auch in der Wirtschaft Führungspositionen haben?
Ich bin mir sicher, dass Frauen kompetenter sind, glaube aber nicht, dass sie in den Top-Positionen dominieren werden. Wegen der Doppelbelastung
werden die Karrieren von Frauen immer gebrochen. Und ich denke auch, dass manche Frauen zu vernünftig sind für solche Posten. Männer sind
eher bereit, alles zu tun, was die Karriere ihnen abverlangt. Frauen tun sich das weniger an.
Zurück zur Schule: Lernen Mädchen lieber?
Mädchen lernen beispielsweise lieber auswendig als Jungs. Weil sich die Lehrerin oder die Mutter freut. Jungs finden: Was soll das? Aber wenn sie im Biologieunterricht den Kreislauf durchnehmen, sind Jungs interessiert an dem Ablauf: Da gibt es eine Pumpe, da gibt es Druck und Widerstände. Dann kommt eine Prüfung – und was wird abgefragt? Nicht, wer was verstanden hat, sondern die lateinischen Namen der Gefäße. So läuft es, bis zur Universität.
Wie könnte es anders gehen?
Man lernt bis in die Pubertät hinein über Erfahrung. Das Lernen muss in eine Erfahrung eingebettet sein. Beispiel Mathematik: Man könnte Gruppen bilden und sagen: Ihr baut eine einfache Balkenwaage. Dabei machen die Kinder eine Erfahrung und kommen von allein darauf, dass nicht nur das Volumen eines Materials eine Rolle spielt, sondern auch seine Dichte. Und die Hebel: Wie wirkt sich die Länge der Arme auf die Messung aus? Das werden sie nie vergessen. Wenn sie dagegen das Hebelgesetz auswendig können, nützt ihnen das wenig.
Je anschaulicher es wird, desto aktiver sind Jungs? Ist das nicht ein Klischee?
Jungs sind nicht fauler als Mädchen, aber sie haben andere Interessen.
Sie sitzen stundenlang vor dem Computer, das passt den Erwachsenen auch nicht, doch zum Teil entwickeln sie unglaubliche Fähigkeiten, sich in virtuellen Räumen zu bewegen. Und wenn Sie an unsere Gesellschaft denken: Was ist wichtiger – der Pythagoras oder die virtuellen Räume im Computer? Ich bin ohnehin der Meinung, dass die lange Schulbildung total idealisiert wird.
Sie finden, die Schulzeit ist zu lang?
Manchen Kindern bekommt eine lange Schullaufbahn gar nicht. Aber in
Deutschland möchten alle Eltern, dass ihre Kinder Abitur machen.
Ist das in der Schweiz anders?
Soweit ich weiß, machen in Deutschland mehr als 38 Prozent der Schüler
Abitur. In der Schweiz sind es 18 Prozent: europaweit am wenigsten.
Und das ist besser?
Ja. Sozialdemokratische Bildungspolitiker dachten, alle Schüler könnten
gleich intelligent sein, wenn man nur die Rahmenbedingungen verbessert.
Aber es gibt eine enorme Variabilität in der Bevölkerung, die Begabungen sind unterschiedlich verteilt. Und die Frage ist eigentlich: Wie geht man damit um? Wie kann jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen Platz finden?
Und nun gibt es für bestimmte Begabungen keine Arbeitsplätze mehr.
Das macht Angst: Beinahe die ganze produktive Industrie ist weg.
Also wäre es doch gut, man würde so viele Leute wie möglich so gut wie möglich ausbilden.
Man prüft, gibt Noten. Das ist keine Bildung, das ist Drill. Aber alle glauben daran, die ganze Gesellschaft, insbesondere die Eltern. Aus einer existenziellen Angst heraus ist man bereit, den Kindern das anzutun – speziell den Knaben. Man glaubt, den Kindern so gute Chancen zu geben. Aber sie befinden sich in einem Wettbewerb, jeder gegen jeden, und ich denke nicht, dass sich da gut lernen lässt. Eine Schule, in der das Kind andere Kinder als Konkurrenten ansieht, hemmt das Lernvermögen
und macht einsam.
Finden sich Mädchen in dieser Konkurrenz besser zurecht?
Frauen haben sozial immer anpassungsfähig sein müssen, Männer sind da eher eindimensional und weniger flexibel. Die Frau kommt nun in der Gesellschaft besser zurecht als der Mann und hat neuerdings auch die Oberhoheit über die Familie. Es ist höchste Zeit, dass sich die Männer mit dieser Situation auseinandersetzen.