Wenn der Sommer in Schweden, Norwegen und Finnland träge wird, geraten die Kraniche in Aufregung: Dann rotten sie sich zusammen und fliegen in die warmen Winterquartiere nach Frankreich, Spanien, Afrika. Vorher aber sammeln sie sich an der deutschen Ostseeküste, um sich vollzufressen mit dem, was nach der Ernte auf den Feldern Mecklenburg-Vorpommerns liegenbleibt. »Westeuropäischer Kranichzug« nennen Biologen die Reise von den nordischen Ländern über Nordostdeutschland nach Spanien. Bis zu 70 000 Kraniche haben sich in den vergangenen Jahren zwischen September und Dezember zum Beispiel in Nordvorpommerns Boddenlandschaft zusammengefunden. Und weil es so viele geworden sind im letzten Jahrzehnt, kommen auch immer mehr Touristen. »Fünfte Jahreszeit« jubeln die Tourismus-Experten schon, weil die Kraniche der Region eine neue Reisezeit bescheren.
In Groß Mohrdorf, etwa 14 Kilometer von Stralsund entfernt, haben der World Wildlife Fund (WWF) und der Naturschutzbund NABU ein »Kranichzentrum« eingerichtet, dort gibt es Pläne, auf denen alle Kranichbeobachtungsplätze eingezeichnet sind. Ehrenamtliche »Kranich-Ranger« erklären Touristen, wo und wann sie die Kranichmassen beobachten können.
Günter Nowald ist der Leiter dieses Zentrums, ein Biologe mit festem Schuhwerk und wasserdichter Jacke: »Vor der Wende kannte der WWF zwölf Kranichpaare in Westdeutschland. Um sie zu schützen, haben wir zwölf Wohnwagen in der Nähe ihrer Brutplätze aufgestellt.« Doch dann kam die Wiedervereinigung. Die Küstenregion Nordvorpommerns war zu DDR-Zeiten militärisches Grenzgebiet, die Natur blieb unangetastet. Schon damals rasteten dort Kraniche: Sie fraßen Ernterückstände, aber auch frisch ausgebrachte Wintersaat, das machte sie bei Landwirten nicht unbedingt beliebt. Sie vertrieben die Vögel mit Schreckschussanlagen.
Nach der Wende wurde dann ein modernes »Kranichmanagement« eingeführt, sagt Günter Nowald: Ablenkfütterungen etwa. Das bedeutet, man lotst den Kranich auf Felder, auf die extra Futter gestreut wurde. Die Naturschützer erkundeten auch die Rast-, Schlaf- und Brutplätze der Vögel und riegelten sie ab. Seitdem kommen nicht nur immer mehr Vögel, um hier zu rasten, etwa 7000 Kranichpaare nisten sogar auch in Deutschland. »Wir haben ihren Lebensraum geschützt: Dann kamen sie von ganz allein.« Auch einen Geldgeber trieben die Vogelschützer auf: Die Lufthansa bezahlt jährlich eine sechsstellige Summe für den Schutz ihres Wappentiers.
Heute kümmert sich das Kranichmanagement nicht nur um die Vogelströme, sondern auch um die Vogeltouristen. Gegen sechs Uhr morgens warten sie in reetgedeckten Beobachtungshütten und sehen den Kranichen dabei zu, wie sie von ihren Schlafplätzen auf den Inseln Großer Werder und Bock zu ihren Futterplätzen auf dem Festland fliegen. Im Minutentakt erheben sich laut trötende Vogelketten über den Inseln, in ihrem Formationsflug wirken sie wie Kalligraphiezeichnungen am Wolkenhimmel.
Über zwei Meter misst die Flügelspannweite eines Kranichs, und mit diesen großen Schwingen kann er natürlich auch sehr viel Luft bewegen. Wenn hundert Kraniche über einen hinwegziehen, hört sich das wie ein Geschwader an. Mit dem Fernglas erkennt man die Schönheit dieses Vogels: Mit seinem grauschillernden Gefieder, seinem roten und weißen Kopf und diesen endlos langen, dünnen Beinen sieht er aus, als hätte ihn ein Haute-Couture-Designer gezeichnet. Die Männchen bleiben ein Leben lang mit ihrem Weibchen zusammen, trotzdem balzt er – vorbildlich – jedes Jahr neu um sie. Die Tänze, die die Vögel dabei aufführen, haben sie berühmt gemacht.
Ein neues Geschwader hebt ab, dazu das wiegende Gras dieser unfassbar schönen Landschaft, dramatische Sonnenaufgangsfarben, silbergraues Wasser, quatschender Schlamm unter den Stiefeln – Naturkitsch in seiner schönsten Form.
Später stehen die Kranichtouristen an Feldrändern und sehen mit ihren Teleobjektiven selbst aus wie komische Vögel. Für besonders motivierte Hobbyfotografen bietet das Kranichzentrum sogar Verstecke an: große Kisten, in die man nur gebückt hineinkriechen kann, ein Eimer steht als Toilette bereit, man muss vor Sonnenaufgang hinein und darf erst in der Dunkelheit wieder heraus: Aber das macht dem wahren Kranichfan nichts aus, die Verstecke sind auf Jahre ausgebucht. Nach so einem Kranichtag weiß man, wofür Outdoorkleidung erfunden wurde.
Die wahren, die echten »Ornis«, wie Günter Nowald Vogelliebhaber, Ornithologen, nennt, begleiten ihre Vögel überall hin: Im Herbst kommen sie nach Ostdeutschland, reisen mit den Kranichen ins Rhinluch nach Linum bei Berlin und in die Diepholzer Moorniederung in Niedersachsen, weiter nach Frankreich, bis in die Extremadura nach Spanien. Im Frühjahr dann kommen sie zur Kranichbegrüßung nach Schweden an den Hornborgasee, wo sich die Kraniche sammeln auf dem Weg zu ihren Brutplätzen.
Selbst die Landwirte der Gegend haben sich nun mit den Kranichmassen angefreundet, die Gaststätten und Hotels bereiten den Kranichtouristen Lunchpakete, die Schifffahrtsgesellschaften bieten Kranichtouren an. Nur damit müssen die Leute dieser Gegend auch in Zukunft leben lernen: »Ganz schön laut sind die«, sagt Uwe Reddig, Taxifahrer, der hier geboren wurde. »Ab sechs Uhr morgens können wir während der Kranichzeit das Schlafen vergessen.«
Informationen zu Kranichreisen:
In der Rügen-Bock-Region gastieren bis Ende Oktober bis zu 70 000 Kraniche, die meisten aus Skandinavien. Infos über das Kranich-Informationszentrum in Groß Mohrdorf: kraniche.de. Übernachten: Im neu eröffneten »Scheelehof« im 14 Kilometer entfernten UNESCO-Weltkulturerbe Stralsund; hotel-stralsund-scheelehof.de. Oder im »Naturcamp zu den zwei Birken« in Duvendiek, Tel. 038321/601 28. Kranichtouren mit dem Schiff.
Viele Kraniche rasten auch in Linum bei Berlin, die meisten Vögel aus Osteuropa. Gegen Ende Oktober sind es bis zu 80 000, Mitte November ziehen sie weiter. Ihr Rastplatz sind flache Seen und Wiesen, die jedes Jahr geflutet werden, damit die Kraniche stehend im Wasser schlafen können. Touren bietet das Naturschutzzentrum »Storchenschmiede« an, Tel. 033922/ 505 00, oder das Restaurant »Storchenblick«, Tel. 033922/902 18. Übernachten: Im Hotel »Seeschlösschen«, Tel. 033925/88 03.
Auch über die Diepholzer Moorniederung ziehen die Kraniche. Auf den 15 Hochmooren im Städtedreieck Osnabrück–Hannover–Bremen rasten bis Ende November bis zu 70 000 Kraniche. Führungen über duemmerweserland.de. Der BUND hat einen mobilen Beobachtungsstand eingerichtet, Infos gibt es hier. Übernachten: Mitten im Moor im Dreisternehotel »Seeschlösschen«, Tel. 05447/994 40.
Außerdem kann man kleinere Kranichgruppen auch noch im Müritz-Nationalpark (etwa 8000 Kraniche) und am Galenbecker See im Osten der Mecklenburgischen Seenplatte (etwa 5000 Kraniche) beobachten.
Fotos: Ulrike Myrzik