Manchmal denke ich, er ist noch da. Ein paar letzte Haare in den Staubmäusen unterm Schrank. Ein vermeintliches Huschen im Augenwinkel. Aber da, wo sein Körbchen war, sind jetzt nur eine Blume in einer Vase und ein Kreuz aus schwarzer Pappe, gebastelt von meiner siebenjährigen Tochter Linda, in deren Zimmer er bis zuletzt geschlafen hatte. Jetzt schläft er für immer. Wir wollten es so. Es klingt wie eine Erlösung, eine Gnade, die man schenkt, doch es fühlt sich trotzdem mies an. Wer tötet schon gern, was er liebt?
22 Jahre wurde Hiphop alt, selbst für einen Kater ein biblisches Alter; am Ende nannten wir ihn »Heesters«. Die letzten Monate konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Wir mussten ihm seinen Napf auf ein kleines Podest stellen, weil er zu schwach war, sich zu bücken. Seine gütigen Augen waren nur noch zwei wässrige Schlitze. Linda störte das nicht. Auch sein nächtliches Klagen nicht oder seine Inkontinenz. Wenn er gar zu traurig dreinblickte, setzte sie sich zu ihm ans Körbchen und las ihm eine lustige Geschichte vor. Kinderliebe ist bedingungslos. Die Liebe von Katzen muss man sich verdienen. Hiphop gab seine Liebe maßvoll und nicht jedem. Er war kein Schmusekater. Fremde beachtete er nicht. Doch irgendein Instinkt ließ ihn wissen, wenn es einem nicht gut ging. Dann kam er, setzte sich auf den Schoß, begann zu schnurren und versöhnte einen mit dem Universum.
Hiphop, das ist wahr, führte ein unspektakuläres Leben als Wohnungskatze. Ganz anders als die Katzen meiner Kindheit, die mir massakrierte Mäuse in den Schulranzen legten oder für Tage im Wald verschwanden. Aber er hätte es schlimmer treffen können. Er tapste im Schaufenster eines muffigen Zoogeschäfts herum, keine vier Wochen alt, als wir ihn 1992 für 25 Mark kauften – mein WG-Genosse Christoph und ich, zwei einsame Studenten in der ersten eigenen Wohnung, die sich nach etwas Geborgenheit ihrer Kindheit sehnten. Der Kanzler hieß Kohl, der Sommerhit It´s My Life von Dr. Alban, und das Leben ging los. Jetzt ist Hiphop tot, und meine Haare werden grau.
Stirbt ein naher Mensch, fangen einen die anderen auf. Stirbt ein Tier, ist man recht einsam: Es war doch nur ein Tier! Aber was heißt hier nur? Ich habe mich über ihn geärgert und ihm verziehen, wenn er etwas angestellt hatte, fühlte mich schuldig, wenn wir in Urlaub fuhren, und gut, wenn er uns wieder vergab, wir aßen und schliefen gemeinsam, wie es Mensch und Tier seit Jahrtausenden tun – das alles macht ihn für mich zumindest zu etwas, das viel mehr ist als eine Katze.
Dabei vereinte er viele Klischees: Er konnte eigensinnig, undurchschaubar, manchmal kratzbürstig sein. Oft fragte mich Linda, wie Hiphop war, als er noch kein Pflegefall war. Ob er war wie die Kätzchen auf dem Bauernhof, die so lustig herumtollen. Ob er immer schon so streng roch. Dann erzählte ich ihr, dass Hiphop, wie alle Katzen, sehr auf Körperpflege achtete und nach dem Putzen duftete wie frisch gestärkte Bettwäsche. Dass er gern in offenen Waschmaschinen schlief und oft mit in die Wanne kam, wenn man badete. Dass er, Gott weiß warum, verrückt nach Oliven war. Und wie er, als Linda von der Entbindungsstation nach Hause kam, tagelang nicht von ihrem Babybett wich, als gälte es, einen Schatz zu bewachen. Seitdem waren die beiden ein Paar.
Ich weiß, man soll nicht zu viel in Tiere projizieren, denn eine Haustierbeziehung beruht auf Abhängigkeit, aber 22 Jahre – das schweißt zusammen. Eine Katze im Haus ist wie ein guter Geist, der mit einem durchs Leben geht. Blättere ich durch alte Fotos, sehe ich Veränderung und Vergänglichkeit: alte Freunde, neue Freunde, alte und neue Liebe, Menschen, die älter werden oder sterben. Die wechselnde Bühne eines halben Lebens. Nur der schwarzweiße Kater im Hintergrund bleibt derselbe. Ein roter Faden, der nun abreißt. Dabei dachte ich immer: Alt wird er eh nicht. Hiphops Krankenakte war lang – Nieren kaputt, Allergien, Haarausfall, epileptische Anfälle, als er jung war, Taubheit, als es zu Ende ging. Aber wie das so ist mit Mängelexemplaren: Sie wachsen einem besonders ans Herz. Vielleicht weil uns ihre Unzulänglichkeit an unsere eigene Fehlbarkeit erinnert und ihre Würde uns tröstet.
Als ich Hiphop das letzte Mal zum Tierarzt brachte, war er leicht und zerbrechlich wie Tannenreisig. Eingehüllt in seine Lieblingsdecke, lag er auf dem stählernen Behandlungstisch, zu schwach, um zu protestieren. Zu fünft standen wir um ihn herum wie eine Familie um das Sterbebett des Patriarchen. Kurz nachdem ihm die Ärztin die Spritze gesetzt hatte, sank sein Kopf auf die dürren Pfoten. Linda streichelte ihm über den Kopf, weinend, aber tapfer. Dann wurde sein Blick starr. Beim Begräbnis im Garten rief Linda »Vorsichtig!«, als ich ihn in die Grube legte, als könnte ich ihm noch wehtun. Dann schaufelte ich schwere, nasse Erde auf sein ebenholzschwarzes Fell.