Ein Flughund steht Kopf: Ihn kann man zum Beispiel in Papua-Neuguinea und Australien sehen - aber eher nicht auf Plakaten von Tierschützern.
Hat ein Igel in Deutschland einen Unfall, ist ihm schnell geholfen. Eine Igel-Hotline (01805/555 95 51) ist rund um die Uhr erreichbar. Die nächste Igel-Station ist oft kaum weiter entfernt als das nächste Krankenhaus. Und falls man weiter weg wohnt, gibt es im Internet Erste-Hilfe-Broschüren, wie man dem Tier wieder auf die Pfoten hilft. Darin stehen auch »Igelmenüs« wie: enthäutete Poularde mit zerdrückten Möhrchen in Brühe und Hundeflocken getaucht. Vereine vermitteln Pflegeplätze für Igel. Wer den Igel zur Reha lieber im Garten behält, kauft ein Hüttchen wie das Fünf-Sterne-»Igel-Ritz«, das Igelhaus »Wintertraum« oder das »Bistro Heckengarten« mit katzensicherem »Labyrintheingang«.
Man könnte meinen, der Igel wäre vom Aussterben bedroht: Findet man einen, könnte es der Letzte auf Erden sein. Doch auf den Roten Listen der gefährdeten Tiere ist der Igel weltweit als »Least Concern« und in Deutschland als »ungefährdet« geführt. Besser kann es einem Tier kaum gehen.
Die Sache ist die: Tierschutz ist eine Frage der Sympathie. Welche Tiere der Mensch schützt, hängt weniger davon ab, wie gefährdet, misshandelt oder wichtig für das Ökosystem sie sind, sondern davon, wie nah der Mensch sich ihnen fühlt. »Wir finden Tiere vor allem dann schützenswert, wenn sie Eigenschaften haben, die uns auch beim Menschen wichtig sind«, sagt der Tier-Ethiker Herwig Grimm von der Veterinärmedizinischen Universität Wien. »Wir fragen, ob das Tier eine Sprache hat; eine Kultur, also Tradition; oder ob seine Physiognomie und seine kognitiven Fähigkeiten unseren eigenen ähneln.«
Es fällt dem Menschen daher leichter, Insekten etwas zu Leide zu tun als einer Waldmaus, die mit ihren großen schwarzen (wenn auch mäßig entwickelten) Kulleraugen wie ein Menschenbaby in die Welt schaut. Für das hochkomplexe Facettenauge der Libelle hat der Mensch hingegen keinen Blick. Selbst unter Biologen beobachtet Grimm, dass sie den aufrecht gehenden Menschenaffen viel mehr Aufmerksamkeit schenken als den vierbeinigen Hunden – und den vierbeinigen Hunden mehr als den Fischen.
Im Igel scheint derweil jeder etwas zu sehen, was ihm wichtig ist. Gartenbesitzer wissen das Tier als Schneckenjäger zu schätzen. In den sozialen Netzwerken sind Igelbabys – meistens mit dem Bauch nach oben fotografiert, sodass sie aussehen, als lägen sie in einer Wiege – fast so populär wie Kätzchen. Die Grüne Jugend sieht im Igel offenbar die Verkörperung ihrer eigenen Wut: Der Igel in ihrem Logo fletscht angriffslustig die Zähne. Die Polizei in Willich, einem Städtchen nahe Düsseldorf, warnte 2013 die Bürger eindringlich davor, Bürgerwehren zu bilden. Im Ort hatte man 14 verbrannte Igel entdeckt, woraufhin die Tierschutzorganisation PETA und einige Privatpersonen 6000 Euro Kopfgeld ausschrieben.
Hingegen interessiert kaum jemanden, dass etwa die Kleine Hufeisennase (eine selten hässliche Fledermaus), die Chiemsee-Renke und der Ammersee-Kilch (zwei uncharismatische Fische) oder die Hausratte in Deutschland vom Aussterben bedroht sind.
Tierschutz begann während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert in England und betraf zunächst vor allem Pferde. Logisch war das nicht: Durch die Motorisierung wurden Pferde ja gerade von ihrer Jahrhunderte währenden Last befreit. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho von der Berliner Humboldt-Universität sagt: »Meine bösartige Vermutung ist, dass Tierschutz immer auch in dem Moment reagiert, wenn etwas verschwindet. Man beklagte das geprügelte und gequälte Pferd, meinte aber eigentlich dessen Verschwinden.« Der Mensch sah im Pferd etwas, was ihn generell beunruhigte: den Niedergang einer alten Ordnung und den Anbruch einer neuen.
Die Vermenschlichung von Tieren begann dann im 20. Jahrhundert. 1961 nahm der britische Daily Mirror in einer Sonderausgabe ein Nashorn namens »Gerti« und deren Junges auf den Titel und schrieb alarmierend: »ES MUSS SOFORT ETWAS GESCHEHEN«– sonst sei Gerti bald tot, ausgestorben wegen »menschlicher Dummheit, Gier und Vernachlässigung«, zusammen mit ihren Artgenossen. Erdacht hatte sich diese Schocktaktik eine Londoner Werbeagentur, um Spenden für den WWF zu sammeln, eine neue Organisation mit Nähe zum englischen Königshaus, die in den Nationalparks ehemaliger Kolonien bedrohte Tierarten erhalten wollte (und vielleicht auch ein wenig den Untergang des britischen Imperiums verarbeiten). Kurz zuvor hatte der deutsche Professor Bernhard Grzimek mit seinem Bestseller Serengeti darf nicht sterben. 367 000 Tiere suchen einen Staat in die gleiche Kerbe geschlagen. Kino und Fernsehen trugen ohnehin zur Vermenschlichung von Tieren bei: Flipper und Lassie eroberten mühelos die Menschenherzen.
»Wir schützen letztlich oft nur das Menschliche im Tierlichen«
Wie akut das Nashorn Gerti und seine Artgenossen wirklich gefährdet waren, ist eine andere Frage. Angeblich ließ der WWF sie noch zwölf Jahre auf seine Hilfe warten, ohne dass sie ausstarben. Trotzdem: »Die Masche funktionierte so gut, dass der WWF sie so oder so ähnlich bis heute anwendet«, schreibt der Journalist Wilfried Huismann in seinem Schwarzbuch WWF. Und nicht nur der WWF tut das.
Die größten zehn Tierschutzorganisationen in Deutschland – allen voran WWF, Greenpeace, BUND und NABU – haben zusammen ein Budget von rund 200 Millionen Euro. Das meiste ist Spendengeld. Und das fließt offenbar am schnellsten, wenn sympathische Tiere als Testimonials eingesetzt werden. Beim WWF kann man etwa Pate oder »Schutzengel« eines Tieres werden, beispielsweise des Tigers (der schöne Kraftprotz generiert mit Abstand den größten Umsatz), des Elefanten oder des Wolfs. Das Problem ist: Die so gesammelten Spenden sind zweckgebunden, das heißt, was für den Wolf gespendet wurde, muss auch dem Wolf zugute kommen. Beim WWF machen diese zweckgebundenen Gelder ein Viertel bis ein Drittel aller Spenden aus. Allerdings hätten zweckgebundene Spenden in der Regel eine Art Öffnungsklausel, erklärt Burkhard Wilke, der Geschäftsführer des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen, das unter anderem ein Spenden-Siegel vergibt. Und durch diese Hintertür kann dann vielleicht doch der Pangasius bekommen, was der Tiger nicht zwingend braucht.
Doch es ist ausgesprochen schwierig, unmittelbar für Tiere zu sammeln, in die der Mensch nicht so vernarrt ist. Von Fischschutzvereinen hört man, dass ihre Spendenbriefe deutlich weniger Einnahmen generieren als die für andere Tiere, Katzen etwa. Oder Delfine: Man googelt »Delfinschutz« und findet sofort reihenweise Links zu Patenschaften mit dem lächelnden Raubtier. Die »Gesellschaft zur Rettung der Delfine« beispielsweise vermittelt »Bodo« aus Peru. Wohlverstanden: Den Delfinen geht es heute – von lokalen Populationen abgesehen – so gut wie den Igeln. Mehr als vier Millionen gibt es weltweit allein vom Gewöhnlichen Delfin, »Least Concern« auf der Roten Liste. Sorgen machen müsste man sich eher um den bedrohten Braunen Zackenbarsch. Allerdings zeigen dessen Mundwinkel nicht so nett nach oben wie beim Delfin, sondern in die Tiefe des Meeresgrundes.
Mit der Umweltbewegung in den Siebziger- und Achtzigerjahren erhielt ein Tier große Aufmerksamkeit, das kein König der Wildnis war und auch nicht als Nutz- und Haustier dem Menschen nahe stand: Der Frosch machte eine erstaunliche Karriere. Vor der Industrialisierung war er penetrant weit verbreitet, im Mittelalter galt er obendrein als die Verkörperung des Bösen. Doch dann wurde er zum Opfer der Industrie: Seine Feuchtgebiete wurden trockengelegt, Straßen wurden gebaut, Laborversuche an ihm durchgeführt. Einige Froscharten waren (und sind) bedroht – aber als der Frosch plötzlich beliebt wurde, zum Symbol des Umweltschutzes, ging es nicht wirklich um ihn. Im Frosch sah der Mensch eine neue Sorge verkörpert, »der Tod des Tiers signalisiert den Tod der Natur. Dessen schleichenden Prozess sehen wir nicht, aber können ihn am Froschsterben imaginieren«, schreibt der Kulturhistoriker Bernd Hüppauf von der New York University in seinem Buch Vom Frosch. Frösche über die Straße zu tragen, wurde so zum Akt des Widerstandes gegen die Umweltzerstörung. In verniedlichter Form tauchte das einstige Plagesymbol nun in der Werbung für den Schutz des Regenwaldes auf – oder für Öko-Putzmittel, mit babyhaft großen Augen und scheinbar lächelndem Mund.
»Ich sehe eine zentrale Schwierigkeit im Tierschutz darin, dass er nicht Tiere in ihrer Eigenart zu verstehen versucht. So schützen wir letztlich oft nur das Menschliche im Tierlichen«, sagt der Tier-Ethiker Grimm. In vielen Gesetzen werden etwa vorrangig die Wirbeltiere geschützt, also Säugetiere, Vögel, Reptilien und Fische, nicht aber Krebse oder Käfer. Und selbst vor Gericht ist die Sympathiefrage entscheidend. Die Züricher Stiftung »Tier im Recht« führt eine Datenbank aller Schweizer Gerichtsprozesse, die Tiere betreffen. Theoretisch sind vor dem Schweizer Gesetz alle Wirbeltiere gleich. Praktisch landen die Peiniger von Säugern aber wesentlich häufiger vor Gericht als solche von Fischen: Um Säuger geht es in rund neunzig Prozent der Fälle, um Fische in einem bis zwei Prozent. Den Rest teilen sich Vögel und Reptilien. Als der Schweizerische Tieranwalt – eine Art Staatsanwalt für Tiere, weltweit einmalig – für ein Pony eintrat, das im Kreis herumgetrieben und dabei zu Tode gequält worden war, wurde er umjubelt. Dann verteidigte der Tieranwalt einen Hecht, der an der Angel im Kreis getrieben und zu Tode gequält worden war – und verlor kurz darauf in einer Volksabstimmung sein Amt.
Immerhin: Für einige Tierarten gibt es Hoffnung. So wird der Krake mittlerweile im deutschen Tierschutzrecht wie ein Wirbeltier behandelt. An ihm ließ sich intelligentes Verhalten beobachten, das dem Menschen vertraut ist: Der Krake kann allein durch Beobachtung anderer Kraken lernen, eine Futterdose aufzuschrauben. Auch die Fledermaus scheint – unter anderem durch zahlreiche »Batnights« mit »Batman-Experten« des NABU und durch den Vampir-Hype der vergangenen Jahre – Sympathiepunkte zu gewinnen. Fledermausschützer beobachten hier einen Generationenkonflikt: Die Eltern finden Fledermäuse abstoßend, die Kinder cool.
Das ist eine gute Nachricht für die Kleine Hufeisennase. Schlechter sieht es für den Zackenbarsch aus, der weder schrauben kann noch für ein Superheldenkostüm taugt. Der WWF setzt sich auch für hässliche Fische wie ihn ein. Als Testimonial dient vorsichtshalber allerdings der hübsche Clownfisch, bekannt aus Findet Nemo.
(Fotos: dpa)