Alles muss raus

Miley Cyrus mag einen notorischen Drang dazu haben, ihre Zunge und ihre Brüste zu entblößen. Aber unsere Stilkolumnistin findet: Ihr Glamrock ist genau das modische Gegenprogramm, das wir in diesen Tagen brauchen.

Einige Medien ließen bereits Mediziner den Gesundheitszustand (genauer: Rauschmittelgenuss) der Sängerin anhand ihres Zungenbelags analysieren.

Fotos: instagram.com/mileycyrus

Zungen sind eine große Sache in der Musikgeschichte. Ohne sie geht Singen schließlich nicht, wahrscheinlich wird dieses Accessoire deshalb so oft von Sänger*innen ausgefahren: Mick Jagger, Steven Tyler, Axl Rose, Kiss – sie alle spielten intensiv mit diesem örtlich etwas verhinderten Vorzeigeobjekt.

Jüngstes Mitglied in der Tradition: Miley Cyrus, die ihre Zunge keine fünf Minuten im Zaum halten kann, zumindest nicht, wenn Kameras in der Nähe sind. Offensichtlich ist der Muskelkörper bei ihr auch besonders lang und agil. Man merkt, wie Corona-versaut die eigene Wahrnehmung bereits ist, wenn man spontan denkt, dass bei ihr bestimmt ein astreiner PCR-Abstrich genommen werden kann.

In einem Interview erklärte die Sängerin einmal sinngemäß, sie sei einfach furchtbar unsicher und wisse vor Publikum nie, wie sie lächeln solle, da mache sie halt Faxen mit der Zunge. Womöglich steckt also nur ein nonverbaler Tick dahinter, vielleicht auch nur plumpe Vulgarität. Selbst Cher - der Prüderie eher unverdächtig – ließ der jungen Kollegin 2013 einmal ausrichten, sie solle das Ding gefälligst nicht dauernd raushängen lassen, erst recht nicht, wenn die Zunge belegt sei. Einige Medien ließen daraufhin Mediziner den Gesundheitszustand (genauer: Rauschmittelgenuss) der Sängerin anhand des Belags analysieren. Nicht nur das Herz, auch sonst tragen wir offensichtlich viel auf der Zunge.

Ähnlich notorisch scheint Cyrus’ Drang zu sein, ständig die Brüste freizulegen und sie dann nur notdürftig mit den Händen zu bedecken. Wahrscheinlich soll das unbändigen Freiheitsdrang symbolisieren, aber meistens sieht es eher beklemmend aus, die Brüste so wegzuquetschen muss eigentlich arg wehtun. Selbst im Weihnachtskostüm zog sie neulich auf Instagram blank und auch für den amerikanischen Rolling Stone posierte sie erwartungsgemäß mit Zunge/ohne Oberteil. Weil ja statt echter Partys angeblich gerade so viel gespielt wird: Beim Pantomime-Raten ist »MC« eine großartige Steilvorlage.

Leider lenkt der doppelte Exhibitionismus gleich von zweierlei ab. Erstens davon, dass ihre Musik mittlerweile deutlich besser ist als ihr Ruf. Zweitens davon, dass sie sich aktuell ziemlich gut anzieht, wenn sie die Klamotten mal anbehält. Cyrus mag zwar erst 28 sein, hat aber schon so viele Metamorphosen hinter sich, dass es für eine ganze Ahnengalerie reichen würde: Disneystar Hannah Montana, Country-Tochter (von Billie Ray Cyrus), Psychedelic-Babe, R&B-Braut, Pop-Sirene, wieder Country-Girl – der Guardian hat das mal sehr treffend als »Genre Tourismus« bezeichnet. Aktuelle Station: Rock. Richtig guter Rock sogar, wie auf dem neuen Album »Plastic Hearts« zu hören ist. Nur gelegentlich überstrapaziert sie ihre Stimmgewalt, die schon mit drei so markant war, dass ihr Vater einmal gefragt wurde, warum er einem Kleinkind Zigaretten gebe.

Modisch allerdings tendiert Cyrus dabei stark in Richtung Glam-Rock. Zum blonden Vokuhila war sie bei Auftritten mit seitlich geschlitztem Abendkleid, Strassgirlande und daumendick türkisfarbenem Lidschatten zu sehen. Im Video zu ihrem Hit »Midnight Sky« trägt sie Chanel mit Logogürtel, bei MTV Zebraprint mit Knight-Rider-Sonnenbrille, im Rolling Stone Glitzer-Plateau-Stiefel von Harris Reed, sonst vor allem: Leder, viel schwarzes Leder. Ihr Motto sei, sich bei der Garderobe nie festzulegen und immer auf etwas Extremes zu setzen, erklärte sie kürzlich in einer Radioshow. Ah ja, danke, da wäre man nicht selbst draufgekommen.

Alles an dieser Frau ist sehr extrem, sehr laut, sehr zu viel. Der Fotograf Juergen Teller soll nur deshalb 2014 aufgehört haben, seine legendären Kampagnen für Marc Jacobs zu fotografieren, weil das neue Gesicht plötzlich Miley Cyrus hieß.

Aber egal, ob man die Frau jetzt mag oder nicht, ihr ungerührter 80er-Jahre-Hedonismus ist das beste Gegenprogramm in diesen Tage. Wir halten hier ja alle seit Monaten an uns, da ist es irgendwie befreiend, wenigstens ein paar Leuten beim Über-die-Stränge-Schlagen zuzusehen. Sweatpants-Kordeln zuziehen können wir hinlänglich selbst, für das Disco-Kleid von Paco Rabanne, den blond gefärbten Vokuhila, dicken Lidschatten und einen Mugler-Catsuit hingegen wird es aktuell schon schwieriger.

Im Grunde übernimmt Miley Cyrus stellvertretend für uns all die modischen Sünden und Exzesse, zu denen wir gerade nicht kommen (und ehrlicherweise auch sonst nicht wirklich im Stande sind). Vielleicht streckt sie uns auch deswegen ständig die Zunge raus.

Typischer Instagram-Kommentar: »Ätschi bääääätsch!«
Das sagt der Doktor: »Sie haben ja immer noch die Mandeln drin!«
Passender Song: »Tongue« (R.E.M.)