Jetzt mal ganz ehrlich: Wenn Sie in den Spiegel sehen, blickt Ihnen da ein ehrenwerter, ehrlicher Mensch entgegen?
Super. Hab ich mir schon gedacht.
Zweite Frage, Hand aufs Herz: Haben Sie heute schon gelogen?
Aha.
Wenn Sie so ehrlich sind wie ich und die Mehrheit der Menschen, dann haben Sie auf beide Fragen mit Ja geantwortet. Das klingt nur auf den ersten Blick paradox: Mehr als 90 Prozent von uns lügen und betrügen, wenn sich uns eine Gelegenheit bietet, aber nur in dem Maß, dass wir uns anschließend noch guten Gewissens im Spiegel in die Augen schauen können. Also: Wenn die beste Freundin fragt, wie ihr das neue Kleid steht; wenn wir für die Abgabe des Berichts noch einen Tag mehr Zeit brauchen; wenn wir keine Lust haben, schon wieder Babysitter zu spielen. Wir halten das für sozial akzeptable Lügen: Es kommt ja niemand wirklich zu Schaden; jedenfalls reden wir uns das ein.
Der israelisch-amerikanische Verhaltensforscher Dan Ariely von der Duke-Universität beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit »der Wahrheit über die Unwahrheit«. Der Autor des Bestsellers Denken hilft zwar, nützt aber nichts: Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen erforscht, wann wir lügen und betrügen – und ist auf faszinierende Antworten gestoßen. In zahlreichen Experimenten hat er gezeigt, dass wir unser Verhalten dann am leichtesten rechtfertigen, wenn wir das Gefühl haben, andere tun es auch. Klassisches Beispiel: Wir schummeln bei der Steuererklärung, weil - das machen ja alle. Oder?
Was aber, wenn ein Land plötzlich einen Präsidenten bekommt, der sich damit brüstet, keine Steuern zu zahlen, obwohl er Millionen verdient? Was, wenn sich der eigene Facebook-Feed mit erlogenen Fake News füllt? Was, wenn selbst etablierte Politiker übelste Verleumdungen von Kinderschänderringen und satanischen Ritualen verbreiten, um Andersdenkenden zu schaden?
»Wenn wir sehen, wie jemand lügt oder betrügt, um sich selbst Vorteile zu verschaffen und dann damit davonkommt«, so Ariely, »hat das ganz klar einen Einfluss auf unser eigenes moralisches Verhalten – es schwindet substanziell.«
Ariely hat mit einem simplen Experiment inzwischen mehr als 40000 Menschen auf die Probe gestellt: Er bittet Versuchsteilnehmer, 20 einfache Rechenaufgaben zu lösen, gibt ihnen aber dafür zu wenig Zeit. Für jede richtige Antwort bekommen sie einen Dollar. Der Haken: Sie müssen nur sagen, wieviel richtige sie haben, dann kriegen sie die Kohle. Vor der Geldübergabe füttern die Versuchskaninchen die Testbögen in einen Schredder, denken also, ihnen komme keiner auf die Schliche - nicht wissend, dass der Schredder nur die Ränder ausfranst, (sonst könnte Ariely nicht überprüfen, wer wann lügt). Immer steigt die Betrüger-Rate steil, wenn ein als sozial ebenbürtig oder gar überlegen empfundener Mitmensch mit schlechtem Beispiel voran geht. Kaum meldet sich ein (schauspielender) Kollege, der nach einer halben Minute verkündet, er habe alle 20 Lösungen, kommen unweigerlich Nachahmer auf die gleiche Idee.
Es lohnt sich, sich Arielys Erkenntnisse im Licht des neuen politischen Klimas anzusehen: Bei Donald Trump kommt man mit dem Fact-Checken gar nicht mehr hinterher. Der Mann, der doch eigentlich im höchsten Amt des Landes als Vorbild dienen sollte, lügt wie gedruckt. Vorletzte Woche brüstete er sich damit, er habe eine Ford-Fabrik gerettet, was aber gar nicht stimmte. Diese Woche log er, drei Millionen Wähler hätten illegal für Hillary gewählt. Vor der Wahl gab er damit an, Frauen sexuell zu belästigen. Bei vielen Veranstaltungen rief er dazu auf, Andersdenkende nicht ungeschoren davon kommen zu lassen.
Also, Herr Ariely, was macht das mit Menschen, wenn ihr gewähltes Vorbild moralisch fragwürdiges Verhalten vorlebt?
»Die Ergebnisse unserer Studien, wie Betrug akzeptabel wird, sind erschüttern, denn sie zeigen, dass wir kein unabhängiges moralisches Barometer besitzen«, erklärt mir Ariely im Interview. »Wenn Menschen um uns herum unmoralisch handeln, denken wir, das sei der richtige Weg. Denn wenn wir versuchen zu verstehen, was richtiges und was falsches Verhalten ist, dann schauen wir auf die Leute um uns herum, und sie helfen uns, unser Verständnis von richtig und falsch zu formen. In diesem Fall führt die Tatsache, dass Trump so herausragt, dazu, dass sein Verhalten und seine Worte in dramatischer Weise verändert, was wir akzeptabel und inakzeptabel finden.« Trump lügt also nicht nur und hetzt gegen Minderheiten, sondern erteilt damit auch Millionen seiner Anhänger eine Lizenz zum Lügen, Betrügen und Hassen.
»Man kann sich zum Beispiel Rassismus anschauen und beobachten, was die Leute akzeptabel finden, online zu posten. Man könnte sagen, was gerade passiert ist, dass die Leute schon immer Eiferer waren und Trump es ihnen nun ermöglicht, ihre Meinung laut auszudrücken. Aber ich glaube, was gerade stattfindet, ist schlimmer: Die Menschen sind nicht notwendigerweise alle Eiferer und Hasser, sondern der Eindruck ›Das ist das richtige Verhalten‹ verändert Menschen zutiefst.«
Die Folgen sehen Amerikaner nun im ganzen Land: Allein in diesem November ist die Zahl der Hass-Delikte in Amerika auf das Fünffache gestiegen. Das Southern Poverty Law Center zählte 867 »Hate Crimes« in den ersten zehn Tagen nach der Wahl, und das waren nur die tätlichen Übergriffe; die Online-Drohungen zählen sie gar nicht, und von den Übergriffen wird ohnehin nur ein Bruchteil aktenkundig.
Die Zahl der Übergriffe ist so verstörend wie der Hass, der hinter ihnen steckt, und es ist klar, dass sich die Bullys von Trumps Hassreden ermutigt fühlen, weil sie ihre Übergriffe mit seinem Namen rechtfertigen. Einige Beispiele aus mehr als 1000 dokumentierten Augenzeugenberichten:
-Vor den Wahlen steckten Unbekannte eine Kirche in Greenville, Mississippi in Brand. Die Stadt glaubt, die Brandstiftung sollte die überwiegend schwarzen Kirchgänger einschüchtern. Die Angreifer hinterließen ein Graffiti als Souvenir: »Vote Trump«. »Solche Angriffe passierten in den Fünfziger- und Sechzigerjahren«, sagte der Bürgermeister von Greenville, »aber doch nicht 2016.«
-Unter dem Hashtag #ReportHate berichten Afro-Amerikaner von tätlichen Angriffen, »Nigger«-Graffitis und »Verschwinde aus unserem Land«-Rufen, denn die USA seien nun »Trump-Land«.
-Muslime werden drangsaliert, so wurde zum Beispiel einer dreifachen Mutter der Hijab vor den Augen ihrer Kinder vom Kopf gerissen.
-Schwule berichten, sie werden bedroht; nie zuvor seien ihnen so viele schwulenfeindliche Parolen entgegengeschmettert worden.
Am deprimierendsten an dieser Entwicklung ist vielleicht, dass ausgerechnet Schulen und Universitäten zum häufigsten Schauplatz des Hasses geworden sind. Gerade der Nachwuchs plappert also am eifrigsten nach, was er aufschnappt. So berichtet etwa die Mutter einer schwarzen Zwölfjährigen in Colorado, ein Junge an ihrer Schule habe dem Mädchen gedroht: »Jetzt, wo Trump Präsident ist, werde ich dich erschießen und alle Schwarzen, die ich finden kann.«
»Das Problem ist, dass das ein Dammbruch ist, ein Startschuß«, sagt Dan Ariely. »Was wird als nächstes passieren? Es ist unglaublich traurig und erschütternd.«
Eine Lösung hat Ariely auch, denn moralisch verwerfliches Verhalten lässt sich erstaunlich leicht verhindern: Sobald man Menschen bittet, die zehn Gebote niederzuschreiben oder Studenten an den Ehrenkodex ihrer Universität erinnert, sinkt die Zahl der Schwindler auf (fast) Null. Dann werden wir daran erinnert, dass wir eigentlich ganz genau wissen, was richtig und falsch ist; dass es ganz und gar nicht okay ist, sich wie ein Schwein zu verhalten.
Dummerweise hat Ariely aber gleichzeitig nachgewiesen, dass der heilsame Effekt nur kurzfristig wirkt: Wenn man Menschen direkt vor einem Test an ihre Werte erinnert, betrügt fast keiner. Aber am nächsten Tag haben sie es schon wieder vergessen.
Foto: Chris Goodney/Bloomberg via Getty Images