Die Rechner der Tafelrunde

Bitte nicht abwischen: Die Fotografin ­Jessica Wynne hat festgehalten, was Mathematikerinnen und Mathe­matiker an ihre Tafeln schreiben. Eine Bilderserie über die Schönheit des Denkens.

SZ-Magazin: Frau Wynne, verstehen Sie, was auf den Tafeln zu sehen ist?
Jessica Wynne: Nein, niemand außerhalb dieser recht geschlossenen, relativ kleinen Gemeinschaft der Spitzen-Mathematiker kann genau verstehen, worum es da geht. Aber es wird zu Do Not Erase einen Bildband geben, in dem zu jeder Tafel ein Begleittext der jeweiligen Mathematikerinnen und Mathematiker steht. Dort werden sie beschreiben, wie sie arbeiten, wie der kreative Prozess abläuft, ihre Momente der Erkenntnis. Nur: Höhere Mathematik bleibt eine eigene Sprache. Sie wird für Laien immer sehr schwer bis gar nicht zu verstehen sein.

Wie sind Sie darauf gekommen, die ­Tafeln von Mathematik-Fachleuten rund um den Globus zu fotografieren?
Ich bin Professorin für Fotografie, meine Sommer-Semesterferien verbringe ich in Cape Cod in Massachusetts. Dort sind Amie Wilkinson und Benson Farb meine Nachbarn, ein Mathematiker-Ehepaar von der Universität von Chicago. Eines Tages sah ich die Tafel, die Amie und Benson zu Hause haben, das war der Auslöser. Ich bin dann mit Amie zu Konferenzen gereist oder habe die Institute kontaktiert und bin zu den Mathematikerinnen und Mathematikern gegangen. Die meisten waren sehr offen für das Projekt.

Wie lief Ihr Arbeitsprozess ab? Sind Sie nach den Seminaren in die ­Vorlesungssäle gegangen?
Nein, dort sind die Tafeln oft zu groß, und das Licht ist nicht gut, also habe ich in den Büros der verschiedenen Fachleute fotografiert. Manche haben extra für die Bilder ihre Theorien an die Tafel geschrieben, manche Tafeln waren bereits mit der jeweiligen aktuellen Arbeit beschrieben. Und die kann sich mitunter ziehen. Ein Mathematiker hatte einen Teil seiner Tafel seit drei Jahren nicht abgewischt, weil er so lange schon bei genau diesem Problem feststeckt. Er schreibt seit drei Jahren drum herum. So entstand auch der Name Do Not Erase. Das wird an die Tafel geschrieben, damit die Putzkräfte sie nicht abwischen.

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Wenn man einer wichtigen Lösung auf der Spur ist, will man vielleicht nicht, dass Konkurrenten diese Idee auf einem Foto sehen.
Die, die ihre aktuellen Ideen nicht fotografieren lassen wollten, beschrieben die Tafeln mit Theorien, für die sie bekannt sind. Aber einmal passierte es, dass ich in einem Institut ein paar Tafeln fotografierte und ein Doktorand hektisch auf mich zukam. Ich musste das Bild löschen. Und in Princeton bat mich ein Mathematiker, mit der Veröffentlichung des Fotos zu warten: »Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich hier etwas Großem auf der Spur bin oder nicht.«

Warum werden in der Spitzenforschung überhaupt noch Kreide und Tafeln ­benutzt? Warum nicht Computer und Smartboards?
Es ist genau dieses Analoge, die Körperlichkeit des Schreibens an einer Tafel. Diese Tafeln sind immer da, diese Leute leben mit ihnen zusammen, wenn man so will. Und das Arbeiten an den Tafeln beinhaltet eine zeitliche Komponente. Man geht an der Tafel entlang, man tritt zurück und sieht sich das Geschriebene an. Es ist ein jahrhunderte­alter, interaktiver, fast performativer Akt. Man denkt anders, tiefer. Als ich mit Amie darüber sprach, dass Tafeln mittlerweile aus vielen Schulen und Universitäten verschwinden, sagte sie: »Das passiert bei uns nur über meine Leiche. Ohne Tafeln können wir nicht arbeiten.« Es ist ihr Werkzeug.

Waren Sie beim Arbeitsprozess der ­Mathematiker anwesend?
Manchmal war ich dabei, wenn sie an die Tafel schrieben. Manchmal fotografierte ich nach einem ihrer Seminare, manche bereiteten die Tafel vorher für mich vor. Was mir aber in den Gesprächen über ihre Arbeit klar wurde und mich sehr überrascht hat, ist, dass Mathematik auf diesem Level ein sehr kreativer Vorgang ist. Es gibt sehr viele Parallelen zur Arbeit eines Künstlers. Wie Künstler auch suchen diese Menschen nach etwas. Nach Wahrheit, nach Bedeutung, nach dem Ursprung von Ideen. Und das mit Begeisterung. Die Tafeln sind Fenster in ihren Geist. Man kann so in diese außergewöhnlichen Menschen hineinsehen, und dort ist es wunderschön. So weit und so unerreichbar.

Viele der Tafeln wirken wie ­Kunstwerke.
Wie bildhaft die jeweilige Tafel ist, liegt natürlich am Fachgebiet. Aber ja, theoretische Mathematik ist extrem abstrakt, und die Fotos sehen mitunter aus wie abstrakte Malereien. Viele der Fachleute sagten mir, als sie mir ihren Arbeitsprozess beschrieben, dass sie in Bildern denken, nicht in Zahlen oder Worten. Sie sehen das mathematische Problem in Bildern, noch bevor sie überhaupt an dem Problem arbeiten.

Inwiefern?
Ein Professor erzählte mir, dass er am Strand saß. Er dachte nicht einmal an Mathematik, er sah nur den Surfern zu. Und aus heiterem Himmel kam diese Vision. Er sah Bilder, sah das mathematische Problem vor sich und auch dessen Lösung. Ein Durchbruch. Oder ein Professor vom Mathematischen Institut in Princeton: Er zieht sich jedes Jahr drei Monate lang nach Irland zurück. Dort mietet er sich eine Hütte und meditiert. Es ist also Teil seines mathematischen Denkprozesses, den Geist zu leeren und nicht zu denken.

Woher kommt die Vergänglichkeit, die die Bilder ausstrahlen?
Das Medium Tafel ist von Natur aus vergänglich. Tafeln sind dafür gemacht, abgewischt zu werden. Ich mochte den Gedanken, etwas zu bewahren, dessen Sinn und Zweck die Vergänglichkeit ist. Dann sind Tafeln etwas, was wir mit der Kindheit verbinden. Ich zum Beispiel bin in einem Internat aufgewachsen, Klassenräume und Tafeln sind mir sehr vertraut. Und es ist die Oberfläche, die mit der tieferen Bedeutung mitschwingt, die dahinter liegt. Manche dieser Probleme fußen auf Jahrhunderten von Forschung. Zu wissen, dass sich etwas so Großes hinter diesen Kreidestrichen auf der Oberfläche verbirgt, ist bewegend. Und nicht zuletzt waren auch viele der Professorinnen und Professoren schon relativ alt. Auch da fühlte es sich an, als sei es wichtig, ihre Arbeit zu dokumentieren. Einige, die ich angefragt habe, sind in der Zwischenzeit sogar gestorben.

Haben Sie eine Lieblingstafel?
Ich liebe die Tafel von David Gabai. Sie ist so außergewöhnlich schön – als ich den Raum betrat und die Tafel sah, blieb mir das Herz stehen. Ich weiß, das klingt komisch, aber ich konnte in diesem Moment die Präsenz der Tafel spüren und von allem, was dahinter liegt.