»Da nagt der Zahn der Zeit!« Ich kann mich noch gut an den Spruch meines Friseurs erinnern, als er mit Kamm und Schere seitlich an meinem Kopf herumfuchtelte. Die Schadenfreude war unüberhörbar. Er hatte selbst nicht mehr arg viel Haare auf dem Kopf, besaß aber genug Lässigkeit, an einem Tag sein Toupet aufzusetzen und am nächsten Tag nicht. Er war aber auch schon Ende 40. Ich, gerade 20, fragte etwas verdutzt: wie, Zahn der Zeit? Hier, sagte er und legte mit dem Kamm triumphierend eine Stelle am Kopf frei. Zum Vorschein kam - viel Haut, wenig Haare.
Geheimratsecken? Der Befund stürzt einen nicht direkt in Depressionen. Immerhin klingt es netter als Haarausfall. Und trotzdem: Wer will schon mit 20 Geheimrat sein?
Man fängt an, morgens nach dem Duschen recht genau zu prüfen, was im Abflusssieb hängen bleibt. Davon hängt nicht unbeträchtlich die Laune des übrigen Tages ab. Den Rest erledigen gut gelaunte Medienberichte über wissenschaftliche Studien, wonach Frauen und potenzielle Arbeitgeber Männer mit weniger Haaren weniger attraktiv finden. Außerdem meidet man fortan helles Licht, weil man sich vor anderen keine Blöße geben will. Vor sich selbst übrigens auch nicht, weshalb man auch Spiegeln aus dem Weg geht. Dazu hätten in meinem Fall definitiv nicht die Haare ausfallen müssen. Natürlich blieb es nicht bei den Geheimratsecken und irgendwann flog die Sache auf. »Kriegst Du weniger Haare?« Eigentlich eine lustige Frage, die eine gute Freundin stellte, weil von »kriegen« ja gerade keine Rede sein konnte.
Ein Freund meinte, ich solle doch mal zum Arzt gehen, wer weiß. Der Arzt nahm Blut ab und teilte mir leider mit, ich sei kerngesund. Ich fragte ihn, ob er nicht irgendein Mittel kenne. Er lachte und sagte, es gäbe da einen Forscher, der sei führend auf dem Gebiet der Haarwuchsmittel. »Aber sein eigener Kopf - blank wie eine Bowling-Kugel.«
Natürlich versucht man trotzdem Shampoos, Tinkturen, Olivenöl. Außerdem verbringt man morgens zunehmend Zeit damit, so etwas wie eine Frisur zu erzeugen, mit dem erwartbar jämmerlichen Ergebnis.
Mit Anfang 30 zeichnete sich immer mehr ab, dass mir drei Optionen blieben:
Erstens: Die 180-Grad-Lösung, also die Haare von einer Seiten mit viel Schwung zur anderen Seite zu bürsten, quasi zum rettenden Ufer, und dabei möglichst viel Kopffläche zu bedecken. Einziges Problem: Dafür war ich 45 Jahre zu jung.
Zweitens: Die moderne, kostenträchtige, letztlich komplett unwürdige Variante: Haartransplantation. Silvio Berlusconi und Wayne Rooney.
Dann lieber drittens: Kojak und Arjen Robben. Das fand auch meine Frau, damals noch Freundin, die etwas mitleidig meine Kämmversuche beobachtet hatte und eines Tages meinte: Komm, rasier das Zeug weg. Ich kaufte für 80 Euro einen Kurzhaarschneider.
Es lohnt sich, etwas Geld in die Hand zu nehmen, das Gerät wird schließlich über die nächsten Jahrzehnte gebraucht. Dafür war ich seit 17 Jahren nicht mehr beim Friseur. Macht bei sieben Friseurbesuchen pro Jahr – der statistische Mittelwert unter deutschen Männern – und niedrig angesetzten 20 Euro pro Haarschnitt 140 Euro jährlich. 140 Euro mal 17 – das ergibt einen schönen Flachbildfernseher.
Vom Zeitgewinn ganz zu schweigen: Wenn man davon ausgeht, dass behaarte Männer pro Woche vielleicht eine Stunde mit Föhnen und Kämmen verbringen, summiert sich das im Laufe eines Jahres auf zwei Tage. Und wozu das alles? Die wenigsten schauen hinterher aus wie George Clooney. Das heißt, auf fünfzig Jahre gerechnet habe ich – verglichen mit diesen Zeitverschwendern - 100 Tage mehr zur freien Verfügung.
Was etwas nervt: Es gibt immer noch Leute, die es sich partout nicht nehmen lassen, meine nicht vorhandene Frisur zu kommentieren, und wie selbstverständlich davon ausgehen, dass ich das sicher auch ganz lustig finde. Passt eigentlich gar nicht in unsere ansonsten doch sehr auf Toleranz und Korrektheit bedachte Zeit.
Aber davon abgesehen fragt man sich mit etwas Abstand, warum man sich früher teilweise so einen Kopf gemacht hat, anstatt das Zeug einfach gleich wegzurasieren.
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