Jetzt ist es also soweit: Ich bin nicht mehr jung. Endgültig abgezeichnet hat sich das an einem dieser langsamen Tage zwischen den Jahren, an denen ich auf dem Sofa fläzte und mich auf dem Laptop durch Youtube klickte. Die Videoplattform hat vor allem eine bemerkenswerte Charakteristik - neben der Tatsache, dass sie Abermillionen Stunden an Bewegtbild aus aller Welt sammelt: Nämlich, dass sie dem Nutzer erlaubt, durch die Empfehlungen, die neben dem gerade laufenden Video erscheinen, tiefer und tiefer in eine zufällige Nische dieser an Nischen unendlich reichen Welt einzutauchen.
So passierte es bei einer dieser Expeditionen ins Ungewisse, dass ich über ein Video über »Cloud Rap« US-amerikanischer Prägung stolperte. Das Phänomen begann vor knapp zehn Jahren in Kalifornien und hat sich seither auch in Europa und im deutschsprachigen Raum schnell verbreitet (»Yung Hurn« aus Wien ist hier das prominenteste Beispiel). Wichtigste Elemente: die namensgebenden Synthesizer-Schwaden, Konserven-Beats in Zeitlupe und mit Autotune bearbeitete Stimmen. Textlich wird Nonsens auf die Spitze getrieben.
In dem Youtube-Video zu sehen war ein junger Kerl, er nennt sich »Lil Xan«. »Lil Xan« ist 21 Jahre alt (sieht aber höchstens aus wie 15), trägt (wahrscheinlich) hippe, viel zu große shabby-schicke Klamotten und ist im Gesicht tätowiert (»Candy» unter dem linken und »Zzz« unter dem rechten Auge, unter anderem). Während der kompletten Kurzdoku ist er entweder betrunken, auf Drogen oder höchstwahrscheinlich beides. Er spricht langsam und kaum verständlich über seinen massiven Drogenkonsum (vorwiegend Xanax, daher sein Künstlername) und den kometenhaften Aufstieg, den er dank eines viralen Youtube-Hits gerade erlebt.
Vor allem aber sitzt er auf der Rückbank eines Autos mit Chauffeur, auf dem Weg zu einem Konzert, und wirkt dabei so tieftraurig, deprimiert und kaputt, dass es zum Heulen ist. Schnitt. Der Rapper und seine Crew auf der Bühne, ekstatische Stimmung, im Publikum hunderte Teenies, die den Shooting-Star feiern und jede Zeile auswendig mitgrölen (natürlich mit filmendem Smartphone im Anschlag). Sein meistgespieltes Video wurde in vier Monaten 93 Millionen Mal angeschaut.
Genau in dem Moment wird es mir schlagartig klar: Ich habe nicht die geringste Ahnung, was da gerade passiert, warum diese Musik, die beim ersten Hören so billig klingt (Konserven-Beats und Autotune) so vielen jungen Menschen so viel bedeutet. Warum diese offensichtlich körperlich und seelisch sehr ungesunden jungen Musiker mit ihren tiefsttraurigen, deprimierenden Raps über Drogen und Tod so gefeiert werden. Vielleicht haben Sie hiervon gehört im November: »Lil Peep«, ein Kollege von »Lil Xan«, starb an einer Überdosis eines sehr ungesunden Drogenmixes. Davor wurde er mit auf den sozialen Netzwerken öffentlich zur Schau getragener Drogensucht und Depression ein Star (seine Musik wird dabei auch eine Rolle gespielt haben).
Beweisstück A: Ein Video von Lil Xan
Bei allen bisherigen aufkommenden Musikhypes und -strömungen hatte ich noch das Gefühl, zumindest halbwegs zu verstehen worum es geht, warum das das nächste große Ding ist. Das ist jetzt anders. Ich verstehe das Phänomen »Cloud Rap« nicht im geringsten, ich verstehe die Musik nicht, ich verstehe die dahinterstehende Haltung zur Welt nicht. Ich glaube, ich bin jetzt offiziell alt.
So muss sich mein Vater wohl gefühlt haben, als Punk aufkam. Der Vergleich ist gar nicht so weit her geholt: Ein tief sitzender Nihilismus und eine Faszination für die dunklen Seiten des Alltags verbindet beide. Aber Punk (für den ich selber auch zu spät jung war, der aber dennoch nahbarer scheint) war wenigstens noch ganz direkt politisch. Da ging es gegen die Konservativen, gegen Thatcherismus und Bonzen, die die Welt regieren. Bei »Cloud Rap« geht es um … Drogen? Oder steckt da vielleicht doch mehr drin? Ich habe es wirklich versucht, bin immer tiefer in das Youtube-Wurmloch getaucht und habe mir zig Musikvideos, Interviews und Reportagen angeschaut.
Doch egal, wie lange ich zuhöre: Mir bleibt das Gefühl, dass hier Codes am Werk sind, die ich nicht entschlüsseln kann. Aber vielleicht soll ich das ja auch nicht. Vielleicht ist »Cloud Rap« ebensowenig für mich gedacht wie Punk für meinen Vater gedacht war. Damals fanden wir es gut - ja, es war geradezu Voraussetzung, dass die Erwachsenen unsere Musik nicht kapiert haben. Dann ist mein Befremden nur folgerichtig; und »Cloud Rap« vielleicht einfach so etwas wie der musikalische Bruder von Snapchat, diesem neuesten Teufel der sozialen Medien, dessen App und Menüführung kein Mensch über 20 wirklich verstehen kann, ja soll.