Warum mich niemand mehr in Istanbul besuchen möchte

Seit einem Jahr lebt unser Autor als Türkei-Korrespondent in Istanbul. Früher war die Stadt ein beliebtes Ziel von Touristen – jetzt trauen sich seine deutschen Freunde nicht mehr, in die Türkei zu reisen. Darum fasst er einen traurigen Beschluss.


Plötzlich, an einer lauten Straßenkreuzung, wo im Sommer der Beton zu schmilzen droht, dort wo Du es am wenigsten erwartest, da atmest Du das Meer. Und dann fällt Dein Blick durch Schluchten und Fluchten hinab auf den blauen Bosphorus, aus der Enge der Stadt auf die Weite des Meeres.

Auf den Straßen sonnen sich fette Katzen unverschämt selbstzufrieden, weil die Istanbuler so sehr in sie vernarrt sind. Dazwischen Zeugnisse von mindestens zwei Weltreichen und zwei Weltreligionen aus 17 Jahrhunderten, Kirchen, Moscheen, Zisternen und Burgen wie mit dem Salzstreuer großzügig über die Stadt verteilt. Die Aya Sofia, die Blaue Moschee, die alte Stadtmauer. Der Duft der Simits, den Sesamkringel. Gegrillter Fisch. Und in einer Meyhanes singen Frauen im Raki-Rausch – ohne Kopftuch, ja wirklich, natürlich ohne Kopftuch! - die Liebeslieder des Transvestiten Zeki Müren.

So ähnlich habe ich im letzten Jahr immer wieder versucht, Werbung für Istanbul zu machen. Nicht ohne Eigennutz: Werbung für Istanbul ist auch Werbung dafür, mich zu besuchen. Manchmal fühlte ich mich wie ein Fremdenverkehrsamt, ein verzweifeltes. Denn geholfen hat all das nicht.

Meistgelesen diese Woche:

Ich lebe seit etwas über einem Jahr in Istanbul. Als ich im Januar 2016 hier ankam, war die Welt zumindest für türkische Verhältnisse noch in Ordnung. Bisschen Krieg im Südosten, bisschen Flüchtlingskatastrophe – ein gewisses Maß an Aufregung war man in der Türkei ja gewohnt. 

»Istanbul ist nicht Kabul oder Bagdad. Istanbul ist eher so wie Kreuzberg am Meer«, findet unser Autor.

Meine deutschen Nachbarn erzählten mir damals, im Sommer 2015 hätten sie kaum ein Wochenende ohne Besuch aus Deutschland verbracht. Geradezu anstrengend sei es gewesen, wenn sich die Gäste die Klinke in die Hand gaben. Damals legten auch noch die dicken Kreuzfahrtschiffe in Sichtweite von unserem Haus an, und spuckten 5000 Rentner aus, die sich durch die engen Gassen rund um den Galata-Turm fraßen. Meine Nachbarin warnte mich vor dem Dreck, den die Schiffsriesen produzierten. »Wie schwimmende Fabriken!« Das ganze Fensterbrett sei schwarz im Sommer vom Ruß. 

Mein Fensterbrett blieb weiß. Kreuzfahrtschiffe laufen Istanbul seit letztem Jahr nicht mehr an - zu gefährlich wegen der Terroranschläge. Meine deutschen Nachbarn sind vor zwei Monaten nach Athen gezogen. Besuch hatten sie 2016 keinen mehr. Ich auch nicht. Istanbul? Das fühlt sich irgendwie gerade nicht so gut an«, sagte Oliver, ein guter Freund aus München, nach dem Anschlag auf den Flughafen im Juni vergangenen Jahres. Er fuhr stattdessen über das Wochenende an den Gardasee.

»Wir fliegen jetzt doch lieber nach Sri Lanka«, meinte Christoph nach dem fehlgeschlagenen Putsch im Juli. Eigentlich wollten er und seine Freundin Maria im September für eine Woche kommen. Versicherungen meinerseits, dass gerade kein bücherverbrennender Mob durch die Straßen von Beyoglu ziehe, und das überhaupt alles nicht so schlimm sei, wie es im deutschen Fernsehen vielleicht aussehe, verpufften. »Ja, aber trotzdem«, sagte Christoph, »die Maria fühlt sich nicht so wohl dabei – auch wegen der Religion.« Seiner Stimme nach zu urteilen, fühlte er sich selbst mindestens genauso unwohl. Ich sagte: »Istanbul ist nicht Kabul oder Bagdad. Istanbul ist eher so wie Kreuzberg am Meer. Wirklich.« 

Ich sagte: »München - Istanbul, das sind zweienhalb Flugstunden, kostet 150 Euro, wenn man rechtzeitig bucht. Nach Hamburg seid ihr länger unterwegs.« Ich sagte: »Es ist wirklich sicher. Außerdem das Meer... .« Es half nichts. 

Ein Reise-Boykott deutscher Touristen spielt Erdoğan nur in die Hände.


Istanbul, das war mal eine der beliebtesten Touristenziele Europas. Über zehn Millionen Millionen Deutsche, Franzosen, Engländer, Schweden, Amerikaner und Italiener kamen jedes Jahr hierher, und staunten über die Stadt auf den zwei Kontinenten mit ihren Gegensätzen. »Jetzt kommen nur noch glatzköpfige Araber, um sich Haare transplantieren zu lassen«, schimpft Murat, ein türkischer Freund von mir. Er vermietet kurzfristig Wohnungen an Touristen, eine Art 
Airbnb. Früher waren verliebte Paare oder Schwedinnen seine Kunden. Bei den Schwedinnen wird seine Stimme wehmütig.

Sein Geschäft ist eingebrochen. Über Wasser halten kann er sich nur noch mit ebenjenen reichen Arabern, die sich nach einer Haartransplantation noch für ein paar Tage in eine seiner Wohnungen einmieten, um mit russischen Prostituierten Sex-Partys zu feiern. Für die Istanbul noch ein Hort der Freiheit ist. 

Besserung ist nicht in Sicht. Noch Ende März sagten Christoph und Maria, sie wollten den Ausgang des Referendums lieber erst einmal abwarten. Buchen könne man Ende April dann ja immer noch. Jetzt, nachdem Erdoğan das Referendum mit einer hauchdünnen Mehrheit gewonnen hat, und die Türkei in eine Diktatur abzurutschen droht, heißt es: »Wir sind uns gerade nicht so sicher, ob wir in einem solchen Land überhaupt Urlaub machen sollen. Wir wollen so ein Regime nicht unterstützen.« 

Mir fallen viele Argumente ein, weshalb man gerade jetzt in die Türkei reisen sollte: Weil eben die Hälfte aller Türken gegen Erdoğan ist. Weil genau die Gegenden, in denen Deutsche Urlaub machen – Istanbul, Izmir, Antalya – mehrheitlich gegen die Verfassungsänderung gestimmt haben. Weil das Land gerade jetzt ganz dringend den Kontakt nach Europa braucht. Ein Boykott spielt Erdoğan nur in die Hände, weil er die Wagenburg-Mentalität noch weiter verstärkt. »Wir gegen alle« – das ist genau die Klaviatur der politischen Emotionen, die Erdoğan so meisterhaft spielt. 

Und außerdem gibt es noch einen anderen Grund: Mich. Ich bin in Istanbul. Freilich, ich kann meine Freunde, und jeden, der zur Zeit nicht in die Türkei kommen will, verstehen. Die Terroranschläge, der schleichende Tod der Demokratie, der polternde Staatschef - das klingt im besten Fall nach politischer Bildungsreise mit Adrenalingarantie, auf keinen Fall nach Entspannungsurlaub. Erdoğans Nazi-Vergleiche, die Bomben, und die Bilder im Fernsehen von Fahnen schwenkenden AKP-Anhängern sind eben prägnanter als meine Erzählungen von einer Fahrt mit Fähre von Karakoy in Europa nach Kadikoy in Asien, begleitet von Möwen, Sonne und Wind. 

Oder einem Tagesausflug auf die Prinzeninseln, wo verträumte Holzvillen im salzigen Wind verwittern. Oder dem Wein, den wir im Sommernächten auf den Dachterrassen der Stadt trinken, oder... . Ach, ich bin müde, das Fremdenverkehrsamt der Türkei zu spielen. Ich habe mich von dem Gedanken verabschiedet, in Istanbul viel Besuch zu bekommen. Ich fliege jetzt eben öfter nach München. Sind ja nur zweienhalb Stunden. 

Foto: dpa; Getty Images