Noch in diesem Jahr sollen mehr als 100 Youtube-Kanäle auf Sendung gehen: Internet-Programme für junge Mütter, Computer-Nerds, Hispanics, Extremsportler, Fashionistas.
(1) Fernsehen wird neu erfunden - nicht von den Fernsehsendern.
Im April wurde der Apple-Chef Tim Cook bei einem Besuch im Washingtoner Hauptquartier des Spiele-Unternehmens Valve gesichtet. Sofort liefen die Gerüchte heiß. Apple, meldeten Websites wie Cult of Mac, plane für sein Fernsehgerät eine Steuerung durch Körperbewegungen, Valve solle die Technologie liefern. Nicht dass Apple jemals angekündigt hätte, an einem Fernsehgerät zu arbeiten. Doch weil
Steve Jobs vor seinem Tod seinem Biografen Walter Isaacson erzählte, er habe das Geheimnis geknackt, wie der Fernseher der Gegenwart aussehen müsse, sind nun Apple-Apostel, Wall-Street-Analytiker und Konkurrenten davon überzeugt, dass es bald losgehen wird mit der Fernseh-Revolution. Hat sich nicht vor wenigen Monaten Foxconn, das Unternehmen, von dem Apple seine Rechner zusammenbauen lässt, bei Sharp eingekauft, um sich Monitor-Nachschub zu sichern? Schreien all die Apple-Erfindungen - die großartigen Benutzeroberflächen, die Siri-Sprachsteuerung, die iCloud, die App-Stores - nicht danach, durch einen Fernseher komplettiert zu werden? Hat nicht ein anonymer Cult of Mac-Informant den Apple-Kasten schon gesehen?
Im Herbst 2012 soll es so weit sein, 2000 Dollar soll das Gerät, das vielleicht iTV heißen wird, kosten, vielleicht auch bloß 1000, weil sich Apple eine aggressive Preispolitik leisten kann und es seinem Nimbus schuldig ist, den Markt, in den es neu eintritt, zu pulverisieren. Der ist ohnehin in der Krise. Gerade gab Sony bekannt, dass man in diesem Geschäftsjahr mit 4,9 Milliarden Euro Verlust rechnet, zu dem vor allem die seit acht Jahren hoch defizitäre Fernsehsparte beiträgt. Bei Panasonic, LG, Sharp und Philips sieht es ähnlich aus. Da kann man einen neuen Mitbewerber nicht wirklich gebrauchen.
Aber eine Hoffnung bleibt den angeschlagenen Fernseher-Herstellern. Denn nicht nur Apple drängt in den Markt, sondern auch der Suchmaschinenkonzern Google. Vor Kurzem hat Google.tv die neueste Generation seiner Set-Top-Boxen vorgestellt, ab Herbst soll es sie auch in Deutschland geben. Und anders als Apple kann Google nicht nur für Internet-Zugang und Apps, sondern auch für eigene Inhalte auf den Fernsehern sorgen. Youtube, Googles Video-Portal, ist gerade dabei, sich ein wenig neu zu erfinden, als Fernsehproduzent. Noch in diesem Jahr sollen nach und nach insgesamt mehr als 100 Kanäle auf Sendung gehen, Internet-Programme für junge Mütter, Hispanics, Fashionistas, oder »Machinima«, ein Kanal für Video-Spieler, der es im Januar auf 149 Millionen Zuschauer brachte. Manche der neuen Angebote werden von Stars kuratiert. Hinter »DanceOn« steht Madonna, Shaquille O’Neal betreibt einen Comedy-Kanal, der Rapper Jay-Z einen Lifestyle-Sender. Lauter Programme für kleine, eher junge Zielgruppen, kein spektakuläres Fernsehen, schon weil die Budgets beschränkt sind (Youtube hat zur Programmentwicklung 100 Millionen Dollar beigesteuert, aber doppelt so viel für das Marketing ausgegeben), doch mit einer größeren Glaubwürdigkeit bei internetaffinen Zuschauern als das meiste, was im normalen Fernsehprogramm läuft. Was Google dafür will: User, die mehr Zeit auf der Website verbringen als die 15 Minuten täglich, mit denen sich Youtube-Besucher bisher begnügen. Und Anzeigenerlöse. Schließlich hat der Fernsehwerbemarkt in den USA ein Volumen von 60 Milliarden Dollar, 30-mal mehr, als für Werbung im Internetvideo-Markt ausgegeben wird. Wenn Google.tv und die Youtube-Offensive erfolgreich sind, könnten auch die Fernsehhersteller davon profitieren, denn Google lässt seine Empfangsgeräte von Sony und LG bauen.
(2) Sender verlieren an Bedeutung, Apps werden wichtig.
Für die Sender allerdings ist die neue Konkurrenz gefährlich. Nicht einmal deswegen, weil sie sich nun gegen noch mehr Spartenkanäle behaupten müssen. Sondern weil die neuen internetfähigen Fernseher (2015 werden das weltweit 60 Prozent aller neu ausgelieferten Geräte sein) ihre privilegierte Rolle unterminieren. Sie waren das, was man nicht vermeiden konnte, wenn man die Glotze anmachte: Anbieter, die auf ihren Sendeplätzen ihre Programme ausstrahlten, ob es sich um Talkshows handelte oder Volksmusik. Bei den neuen »Smart TVs« wird das anders sein. Wenn man sie einschaltet, landet man nicht unbedingt auf einem Sendeplatz, sondern auf einer Benutzeroberfläche mit lauter Apps, wie beim Smartphone. Eine App kann zum Live-Programm eines Senders führen, aber auch zu einer Online-Videothek oder zur »Digital Concert Hall«, in der man sich Konzerte der Berliner Philharmoniker ansehen kann (das Monats-Abo kostet 14,90 Euro). Apps definieren völlig neu, was Fernsehen ist: jeder Bewegtbild-Inhalt, ob linear oder zeitversetzt konsumiert, ob Internet-Video oder aufwendiges Programm.
Der Markt hat ein Riesenpotenzial: Laut einer Untersuchung des Marktforschungsunternehmens GigaOM Pro werden die von TV-Apps generierten Gewinne 2015 bei 1,9 Milliarden Dollar liegen. 2010 betrugen sie noch zehn Millionen Dollar.
(3) Menschen schauen nicht nur in einen einzigen Bildschirm.
Viele Apps sind allerdings nur gut gemeint. Facebook auf dem Fernseher: schlechte Idee, weil jeder im Zimmer mitlesen kann. Außerdem hat beim Fernsehen mittlerweile fast jeder ein zweites Gerät in Betrieb, das Handy, zunehmend auch den Tablet-Computer. Zahllose Untersuchungen belegen, wie verbreitet das sogenannte »Second Screen«-Phänomen geworden ist, der Umstand, dass TV-User beim Gucken etwas im Internet nachschlagen, twittern oder mailen. Je jünger das Publikum, desto virtuoser das mediale Multitasking. Eine von Time Warner in Auftrag gegebene Studie ergab, dass »digital natives«, mit dem Netz groß gewordene Menschen in den Zwanzigern, innerhalb einer einzigen Stunde 27-mal das Medium wechseln. Auch Stefan Knecht, der für das Marktfoschungsunternehmen Nurago Kommunikation erforscht, weiß, wie flüchtig Aufmerksamkeit geworden ist: Der durchschnittliche Smartphone-Nutzer, erzählt er, kann leicht hundertmal am Tag seinen Touchscreen anfassen, lauter Sekunden-Aktivitäten, die er nicht in Erinnerung behält.
Natürlich wollen auch die Sender das Phänomen für ihre Zwecke ausnutzen. »Companion Apps« liefern Bonusmaterial zu ihren Sendungen, Sportstatistiken zum Beispiel, selbstverständlich auch Werbung. Schließlich sabotiert es ihr Geschäftsmodell, wenn die Zuschauer jedes Mal, sobald ein Werbeblock anfängt, Zuflucht zu ihren Handys nehmen.
(4) Über das Fernsehen wird wieder geredet - im Netz.
Ende 2011 untersuchte die US-Marktforschungsfirma NM Incite, wie sich die sozialen Netzwerke auf das Fernsehen auswirken. Das Ergebnis: Wenn auf Facebook und in Blogs die Häufigkeit, mit der über ein Programm gesprochen wird, um neun Prozent steigt, steigt die Quote um ein Prozent. Schon deswegen wollen die Sender ihre Zuschauer auf den neuen Kommunikationskanälen erreichen - auch über Social-TV-Apps für die Zweitschirme (von denen es mittlerweile um die 50 gibt). In Deutschland erreichten Pro7 und SAT.1 während der Casting-Show The Voice mit der Social-TV-Anwendung »Connect« 270 000 Zuschauer.
Auch die Werbung macht sich die Kommunikation über das Fernsehprogramm zunutze. Die Agentur Bluefin Labs etwa wertet Twitterströme aus. Typisches Beispiel: Beim Start von New Girl mit der amerikanischen Sängerin und Schauspielerin Zooey Deschanel wurde festgestellt, dass auffällig viele, die die Sitcom kommentierten, auch die Serie Suburgatory erwähnten. So können Werbeagenturen erfahren, wo sie das Publikum, auf das sie es abgesehen haben, sonst noch antreffen. Fest steht: In der Ära des »Smart TV« wird der Zuschauer gründlicher analysiert werden als je ein Fernsehzuschauer vor ihm.
(5) Dem Fernsehen bleibt nichts anderes übrig, als gut zu werden.
Ende April, das Erich-Pommer-Institut, eine Instanz in der deutschen Fernsehforschung, hat amerikanische und europäische Autoren und Produzenten nach Berlin zum »European TV Drama Series Lab« eingeladen, um den Nachwuchs mit Zukunftsoptimismus zu impfen. Schließlich ist vieles, was in der Glotze läuft, miserabel. Da kann man schon daran zweifeln, ob man die richtige Berufswahl getroffen hat. Keine Angst, sagt Frank Spotnitz, der mal für die Serie Akte X tätig war, in seiner Eröffnungsrede, nie waren die Zeiten so gut für Schreiber, die sich tolle Geschichten ausdenken, nie hatten wir, die brains, so viel Macht, nie waren die Chancen so hoch, dass man uns abkauft, was wir uns ausdenken.
Aber was ist mit all den dummen Reality-Shows, fragt jemand aus dem Publikum. Das kann man nur einmal senden und danach nie wieder, sagt Spotnitz, das ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit. Eine gute Fernsehserie dagegen verkauft sich jahrelang. Man muss sich nicht einmal mehr bemühen, so viele Leute wie möglich zu erreichen. Mad Men hatte in Amerika nur anderthalb Millionen Zuschauer, und trotzdem redet die ganze Welt über sie. Man kann im Fernsehen endlich gute Geschichten erzählen, so überraschend und so wahnsinnig wie nie zuvor, die Leute werden es lieben, weil sie gute Geschichten lieben. Also braucht das Fernsehen gute
Geschichten. Wäre schön, wenn Spotnitz recht behielte.
Illustration: Pascal Cloëtta