Was steht da vor der Tür, es wird nicht etwa Weihnachten sein? Oh, doch, doch.
Schon fallen mir die Rätsel ein, vor denen viele Kinder heuer wieder stehen werden, wenn sie in Kirchen singen und beten, was ihnen vorgesungen und vorgebetet wird – und was ihnen vielleicht lebenslang ein Rätsel bleiben wird.
Aus Waverely in Australien schreibt Leserin H., erst vor zwei Jahren sei Klarheit in ein Mysterium ihrer Kindheit gekommen, als sie am Heiligen Abend in einem deutschen Gesangbuch zum ersten Mal den Text eines Weihnachtsliedes sah, das sie oft gesungen, aber nie verstanden hatte: Lobt Gott Ihr Christen. »Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich
In seinem höchsten Thron,
Der heut’ schließt auf sein Himmelreich
Und schenkt uns seinen Sohn.«
Frau H. verstand:
»Der Heut schließt auf sein Himmelreich
Und schenkt uns seinen Sohn.«
Und fragte sich lange, wer der Heut sei und warum er uns einen Sohn schenke, wenn es doch Weihnachten um Gottes Sohn gehe. »Aber ich habe nie nachgefragt und mir stattdessen wirre Bilder im Kopf ausgemalt, wie ein Heut aussieht, wie fürchterlich er sich in die Heilige Familie hineingedrängt haben musste und wie er es geschafft hatte, sich das Himmelreich – ja nun ganz eindeutig Gottes Hoheitsgebiet – anzueignen. Wurden wir deshalb im Lied aufgerufen, Gott zu loben? Damit er wenigstens von uns Unterstützung bekam, wenn ihm dieser Heut schon so grausam zusetzte?«
Wer nicht versteht, wie einen solche Gedanken plagen können, der ist nie Kind gewesen. Der hat nie, wie viele Leser, über diesem Text gegrübelt: »Es ist ein Ross entsprungen, aus einer Wurzel zart.« Und sich gefragt, wie ein Pferd aus einer zarten Wurzel...
Der kann auch nicht über den Bruder von Leser A. aus Attenhausen-Bruckberg lachen, der bei O Du Fröhliche immer statt »Christ ist erschienen, uns zu versühnen« sang: »Christ ist erschienen, um zu verdienen«. Und der bei Alle Jahre Wieder nicht »Kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus« verstand, sondern »Kehrt mit seinem Säbel ein in jedes Haus«.
Und der wird nie das Mädchen verstehen, von dem Leserin D. berichtet, es habe beim Nachtgebet nicht »Geheiligt werde Dein Name« gesprochen, sondern »Heinrich werde Dein Name«.
Apropos Nachtgebet. Leser S. aus Kaufbeuren macht mich auf einen Briefwechsel zwischen Friedrich Torberg und Justinian Frisch (dem Vater des berühmten Atomphysikers Otto Frisch) aufmerksam, in dem Torberg 1947 mitteilt, ihm sei »das gedankenlos heruntergeleierte Nachtgebet« schon nach wenigen Zeilen unverständlich geworden. Und wenn es hieß »Alle, die mir sind verwandt, Herr, laß ruhn in Deiner Hand«, so habe er die Diemir für einen fremden Volksstamm gehalten, dessen Angehörige alle untereinander verwandt seien, worauf aber die zweite Zeile erst recht keinen Sinn ergeben habe »und bestenfalls eine Bahnstation in Niederösterreich der göttlichen Obhut empfahl; sie hieß Herlaßruhn und dürfte am ehesten zwischen Göpfritz und Sigmundsherberg gelegen sein«.
Dass man die mitten im Winter entsprungene Rose für ein Ross hält, dürfte übrigens nur bayerischen Kindern möglich sein, die das Ross wie »Ros« aussprechen, mit langem o. Wohingegen der Verhörer, der Herrn L. aus Lenting als Kind beschäftigte, nur am Niederrhein möglich war, wo L. nämlich aufwuchs. Man sang da wie überall Ihr Kinderlein, Kommet. Wo aber davon die Rede ist, das himmlische Kind liege »in reinlichen Windeln«, verstand L. auf Grund der rheinischen Sprachfärbung »in rheinischen Windeln«.
»Meine kindliche Deutung war«, schreibt er, »dass es sich bei den ›rheinischen Windeln‹ offenbar um eine besondere Herkunfts- bzw. Qualitätsbezeichnung handeln müsse, und so sang ich den Vers mit kindlich-weihnachtlicher Inbrunst mit. Zu weitergehenden kommerziellen und logistischen Überlegungen, auf welchen Vertriebskanälen rheinische Windeln wohl ihren Weg nach Bethlehem gefunden haben mögen, war ich damals noch nicht im Stande. Für einen Fünfjährigen fiel das alles unter ›Weihnachtswunder‹.« Noch was?
Ja: Fröhliche Weihnachten!
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