Es stinkt zum Himmel

Seit drei Jahren leiden die Menschen im oberbayerischen Piding: Ein übler Geruch hängt im ganzen Ort - und keiner weiß, woher er kommt.

Am Anfang war es noch lustig. Immer wieder hatte jemand eine neue Idee gehabt, wie man den Gestank am besten charakterisieren könne. Sie hatten oben im Ortskern neben der Kirche im »Altwirt« gesessen und sich in ihren schauerlichen Beschreibungen überboten. Erst hatte einfach jemand »Odel« gesagt. Aber Jauche war es ja gerade nicht. Dann waren sie zu »Menschenkot« und, nach ein paar Maß Bier, zu »Menschenscheiße« übergegangen. Doch – und da waren sie sich schnell einig geworden – ein einzelner Begriff konnte den Geruch nicht ausreichend beschreiben. Es roch zwar eklig und durchaus fäkal, aber da war noch mehr in der Luft. Frau Braun, die unten in der Haindlstraße wohnt und deren Balkon genau in der Einstinkschneise liegt, ist sich sicher, auch ein gewisses Verwesungsaroma wahrzunehmen. Genau: »So wie Tierkadaver riecht, wenn schon Maden dran sind.« Und Frau Eberhardt, eine Nachbarin von Frau Braun, ihre Abendspaziergangspartnerin seit Jahren und inzwischen auch eine Freundin, die meint, der Gestank habe auch eine modrige Komponente, so als sei er in Kanälen oder Katakomben entstanden.

Herr Grundner, auch ein Anwohner, hat das alles zu dieser Beschreibung zusammengefügt: Es rieche, sagt er, wie in einem Rohr, durch das vorher jahrelang Kot, Urin, Haare, Fingernägel und Nasensekret geflossen seien. Weil die meisten Leute nicht wissen, wie es in einem Abflussrohr so riecht, erklärt er es immer so: »Wer schon mal einen Siphon aufgeschraubt hat, und sei es nur vom Waschbecken, der kennt zumindest die Note.« Diese Erläuterung hat sich weitgehend durchgesetzt im Ort. Auch der Bürgermeister hat sie übernommen. Nur Frau Höglauer sagt immer noch, es stinke nach Scheiße. So sei es halt, das könne man nicht schönreden. Aber so heiter und reibungslos wie die Suche nach einer geeigneten Beschreibung für den Gestank läuft die Suche nach seiner Ursache leider nicht. Inzwischen stinkt es seit drei Jahren. Und keiner weiß, warum.

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Und was ihnen am Anfang noch wie ein glücklicher Umstand vorkam, ist inzwischen die größte Hürde: In Piding stinkt es nicht permanent und nicht überall gleich stark. Der Gestank kommt und geht. Er hängt nicht über dem Dorf wie eine Wolke, sondern er weht darüber hinweg. Und genau das ist das Problem. Wie Wind einfangen? Wie Geruch zurückverfolgen? Wie die Ursache lokalisieren? Wie den Störfaktor ausschalten, wenn man ihn nicht finden kann, weil er nicht dauerhaft nervt wie eine laute Baustelle, eine dreckige Fabrik oder eine stinkende Rattenplage? Da hilft nur eins: mühsam alle Indizien zusammentragen. Alle Bürger sind aufgerufen, sich an der Landkarte des Gestanks zu beteiligen. Jeder Hinweis wird im Bürgermeisteramt archiviert. Der Gestank ist seit Sommer 2013 Chefsache.

Hannes Holzner ist der Bürgermeister des 5000-Einwohner-Dorfes im Berchtesgadener Land. Eigentlich ein traumhafter Fleck Erde; umgeben von steinigen Bergen und grünen Wiesen. In seiner Amtsstube wird das Problem sichtbar. Im Aktenkarussell in der Ecke seiner Amtsstube reihen sich die Ordner aneinander. Acht oder neun sind es inzwischen. »Geruchsproblematik« steht auf ihren Rücken. Auch die »Beschwerden« füllen schon mehrere Hefter. Holzner schubst das Karussell an und schaut den vielen Akten beim Rotieren zu – ganz so als sei er stolz auf jedes einzelne Papier, das er hier abgeheftet hat.

Sogar seine Handynummer hat der Bürgermeister schon an seine Mitmenschen rausgegeben. Jederzeit dürften die ihn anrufen, wenn es wieder unerträglich stinke, sagt er. Er eile dann herbei. Das sei auch schon vorgekommen. Gerade neulich. Er habe schon im Bett gelegen, seine Verlobte auch, beide am Lesen, als sein Amtshandy ging. Halb elf. Aber er: keine Sekunde gezögert, rein in die Schuhe, den Astra gestartet und losgedüst. Bloß: Als er ankam, war es schon zu spät. Der Gestank hatte sich verzogen. Holzners Auftritt im Pidinger Rathaus steht unter dem Motto: »Ich hab alles im Griff!« Wo er schon nichts am Gestank ändern kann, will er ihn wenigstens ordentlich verwalten.

Ein paar Erkenntnisse gibt es schon: Meistens stinkt es morgens zwischen fünf und sieben. Außerdem fast immer abends ab 19 Uhr. Immer kurz vor einem Regenschauer und kurz danach. Und: Je besser das Wetter, desto eher stinkt’s. Für einen Luftkurort ist das ein echtes Problem.

Wenn der Gestank kommt, flüchtet Frau Höglauer ins Haus, schließt alle Fenster, lässt die Rollos runter. Seit drei Jahren geht das so.


Manuela Höglauer steht in ihrem Garten, der von einem kleinen Bach begrenzt wird. Es plätschert, Vögel zwitschern aus dem Holzhäuschen, das für sie aufgestellt wurde, eine Katze miaut und reibt sich dazu an Frauchens Beinen. Frau Höglauer aber ist sauer. Mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger deutet sie auf all das, was früher mal Feierabend, Familie, Freizeit bedeutet hat: die Schaukelbank, der Steingrill, das Schwimmbecken. Oder die Sitzgruppe samt Bistrotischchen am kleinen Bach, wo sie immer gern ihren zweiten Kaffee getrunken hat, wenn ihre drei Töchter und ihr Mann schon weg waren, ganz in Ruhe. Jetzt geht all das nicht mehr. Der Gestank, sagt sie, sei so beißend, dass man ihn nicht ertragen könne. Wenn er anweht, dann flüchtet Frau Höglauer ins Haus, schließt alle Fenster, lässt die Rollos runter, läuft dann mit zugehaltener Nase rüber in die Speditionshallen der Firma, die sie gemeinsam mit ihrem Mann führt, und macht auch dort alles dicht. Jeden Tag, seit drei Jahren. Auch sie hat Ordner vorzuweisen, denn alle Beschwerdebriefe, die sie abschickt, behält sie in Kopie. Zuerst hat sie sich ans Gemeindeamt gewandt, dann gleich an die Kläranlage, die sie als Ursache ver-mutet, dann ans Wasserwirtschaftsamt in Traunstein, dann ans Landratsamt, und immer wieder schreibt sie auch an den Bürgermeister. Ihre Briefe beendet sie mit der
Formel: »Der Bürger als Steuerzahler hat ein Anrecht auf Hintergründe dieser Ursache.« Das sitzt, findet sie.

Höglauer und ihr Mann waren die Ersten, die sich vehement wegen des Geruchs beschwert haben. Anfangs wurde noch getuschelt, die zwei bräuchten sich nicht zu wundern. Ihre Speditionshalle und das Wohnhaus liegen nur ein paar hundert Meter von der örtlichen Kläranlage entfernt. Klar, dass es dort stinke, haben die meisten gesagt. Aber dann rochen es auf einmal auch andere Anwohner. Pidinger, die einen halben Kilometer Luftlinie vom Gewerbegebiet entfernt wohnen. Frau Braun etwa und ihre Nach-barin Frau Eberhardt, und das Ehepaar Grundner, das sogar noch weiter vom Klärwerk entfernt wohnt. Und die, so erzählt eine Nachbarin, nicht von der Sorte seien, die immer was zu meckern finden, sondern umgängliche Leute. Und dann gibt es noch die Sprechstundenhilfe der Allgemeinmedizinerin Dorothea Trendtel, die noch mal ein paar Hundert Meter weiter entfernt in einer Praxis sitzt – und es auch riecht. Selbst zum Tennisplatz weht der Gestank manchmal hinüber.

Das hat die Suche nach der Ursache nicht gerade einfacher gemacht. Waren sich Frau Höglauer und ihr Mann immer einig, dass es das Klärwerk ist, das so stinkt, benennen andere Anwohner nun neue Geruchsherde: die Molkerei mit ihrem Abwasser, vielleicht aber auch die Lackiererei oder einer der Gastronomiebetriebe, wer weiß, mit welchen Chemikalien die ihre Teller reinigen, und – auch wenn das jetzt vielleicht ein bisschen unpassend sei – die Behindertenwerkstatt könnte es auch sein. Außerdem gibt es unweit von Piding einen Müllberg, längst mit Erde abgedeckt und wild bewachsen, aber was da wohl so vor sich hin gärt … Wer schuld ist an den stinkenden Böen, das ist ein unerschöpfliches Thema in Piding. Denn irgendjemand muss ja schuld sein.

Bürgermeister Holzner klappt seinen Spiralblock auf. In die kleinen Rechenkästchen hat er mit Schreibschrift eine Liste seiner Maßnahmen gesetzt: Zunächst hat er alle gewerblichen Betriebe überprüfen lassen, bis in die Waschküchen sind seine Leute marschiert und haben die Reinigungsmittel kontrolliert. Alles sauber. Nichts gefunden. Hannes Holzner macht ein Häkchen hinter diesen Punkt. Dann hat er die Kanalisation unter Piding durchspülen lassen. Offiziell muss eine Gemeinde das nur alle zwei Jahre machen. Er hat es in den letzten zwei Jahren gleich dreimal machen lassen. Häkchen. Sogar eine Kanalbefahrung mit einer rollenden Kamera hat er angeordnet und jeden Winkel selber am Bildschirm inspiziert. Wieder Häkchen. Zweierlei Messgeräte hat er anbringen lassen an neuralgischen Punkten; sie testen auf Schwefelwasserstoff, einen Indikator für Fäulnis, und prüfen den pH-Wert des Wassers. Aber nichts hat’s gebracht. Wasserproben? Selbstverständlich. Auch ein Häkchen, aber kein Ergebnis. Inzwischen geht der CSU-Mann in seiner Verzweiflung sogar neue Wege. Er hat ein »Aroma Lab« eingeschaltet, ein Duftlabor aus Freising. Üblicherweise kreieren die Mitarbeiter dort Düfte für Unternehmensketten oder Institutionen. In diesem Fall hat der Kunde, die Stadt Piding, schon einen Duft, will ihn aber loswerden.

Wie genau die Leute vom Aroma Lab den Gestank bekämpfen sollen, weiß Bürgermeister Holzner noch nicht. Aber er weiß schon, wo er die Leute platziert. Er fährt mit seinen Fingerkuppen über die Karte an der Wand seiner Amtsstube, die Straßen entlang, die besonders betroffen sind: Haindlstraße, Lena-Christ-Straße, Am Gänslehen und – je nachdem, wie viele Spürnasen es dort gibt in dieser Firma –, vielleicht noch eine Person auf dem Schotterweg in der Huberfeldreibe. Holzner grinst stolz. Wieder einen Punkt seines Maßnahmenkatalogs vermittelt: Aroma Lab. Gerade will er ein Häkchen dahintersetzen, da fällt ihm ein, dass er dort noch mal anrufen muss, wann die Leute denn jetzt kommen und wie genau das ablaufen soll. Also kein Häkchen. Stattdessen macht er ein Ausrufezeichen dahinter. »Dranbleiben« heißt das wohl.

Fotos: Julia Rotter