In der Post waren Nachrichten von Bruno. Er schickte mir eine Liste der Stella Awards 2009, benannt nach Stella Liebeck, die 1992 einen Schadensersatzprozess gegen »McDonald’s« führte und gewann, weil sie sich Verbrühungen dritten Grades mit »McDonald’s«-Kaffee zugezogen hatte.
Die Liste verzeichnete sieben Fälle. Besonders gut gefiel mir Nummer fünf: Ein Mann namens Terence Dickson war in ein Haus eingebrochen, hatte es durch die Garage verlassen wollen, jedoch: Die Garagentür ließ sich von innen nicht öffnen, die Verbindungstür zurück zum Haus auch nicht mehr. Dickson lebte acht Tage lang von Pepsi und Hundefutter, bevor ihn jemand entdeckte. Er verklagte die Versicherung des Hausbesitzers wegen erlittenen Seelenschmerzes und erhielt 500 000 Dollar Schadenersatz. Bruno und ich amüsierten uns über die Geschichte. Dann erzählte ich sie Paola. Sie sagte, das sei sicher unwahr.
Ich war beleidigt, weil mir die Story gut gefallen hatte, setzte mich an den Computer, suchte und suchte und entdeckte, dass die genannte Liste seit Jahren im Internet kursiert und komplett erfunden ist. Alle Fälle sind fiktiv. Nur die Stella Awards gibt es wirklich.
Mir fiel ein, was mir ein Bekannter während des Oktoberfestes erzählt hat. Eine seiner Bekannten, erzählte dieser mein Bekannter, fuhr mit der S-Bahn, als ein Araber ausstieg, der neben ihr gesessen hatte. Er ließ sein Portemonnaie liegen. Sie lief ihm hinterher. Der Mann bedankte sich und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Gehen Sie nicht aufs Oktoberfest, es wird dort etwas passieren …«
Ich mied tatsächlich einige Tage lang die Wiesn, bis ich in der Zeitung las, die Geschichte kursiere in München, sie sei auch aus anderen Städten bekannt, dort aber mit Bezug auf ein Einkaufszentrum oder den Flughafen – und sie sei immer erfunden. Man nennt so etwas urban legend, Hoax, Großstadtmythos, FOAF-Story (FOAF = Friend of a friend), und es gibt Hunderte davon, wie die Geschichte vom Mann, der in einem Zimmer aufsprang und dabei vom Deckenventilator geköpft wurde, oder die von einem New Yorker namens Turklebaum, der fünf Tage tot an seinem Schreibtisch saß, ohne dass ein Kollege sein Ableben bemerkt hätte, eine Meldung, die es angeblich bis in die Londoner Times geschafft hat, aber wer weiß das schon, ich habe die Times nicht gelesen.
Ich rief Bruno an. Ob er wisse, dass die Liste, die er mir geschickt habe, eine Lüge sei? Nein, natürlich nicht. Ob er schon von urban legends gehört habe? Nein, nie.
Das ist das Erstaunliche. Wer sich auch nur eine halbe Stunde mit dem Thema beschäftigt, entdeckt, dass es etliche Bücher, Hunderte von Artikeln, ganze Internet-Kolumnen gibt, die sich mit der Entlarvung dieser Geschichten beschäftigen. Aber die Lügen leben weiter, überall erheben sie wieder aufs Neue ihre gut geschminkten Häupter, ja, sie brachten mich heuer um mindestens einen Wiesn-Besuch, das ist im Grunde unverzeihlich!
Ich rief im Internet die Original-Seite der Stella Awards auf, las die wahre Geschichte der längst verstorbenen Stella Liebeck, kam von hier zu einer Seite namens This is true und entdeckte die Geschichte von Charles D. McKinley, Angestellter in der Poststelle einer New Yorker Firma, dem vor sechs Jahren das Flugticket zu seinen Eltern in Texas zu teuer war, weshalb er sich selbst als Paket aufgab und seinem Arbeitgeber die Portokosten aufbrummte, eine zumindest sehr klimafreundliche Art zu reisen, bloß mit der Deutschen Post nicht zu empfehlen, am Ende versauert man da zur Adventszeit in einer Packstation.
McKinley aber war, endlich vor dem Haus seiner Eltern angekommen, mit seinen Nerven so am Ende, dass er die Kiste aufbrach, in der er saß, dem Boten die Hand schüttelte und in der Dusche seiner Eltern verschwand. Worauf er als blinder Passagier verhaftet wurde.
Ist das nicht ungerecht? Dass eine reale Person wie McKinley ins Gefängnis muss, während Terence Dickson, dieses Produkt einer Lüge, frei herumläuft …
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Vor einigen Jahren hat Axel Hacke selbst versucht, eine urban legend in die Welt zu setzen; es ging um einen Mann, der am Schweigen seines Kühlschranks zugrunde ging. Haben Sie schon davon gehört?
Illistration: Dirk Schmidt