Erstaunt hörte ich jetzt von der Existenz der Internetseite my.microbes.eu. An diesem Ort kann man, so der Plan, mit Menschen auf dem ganzen Erdball in Kontakt treten, deren Darmbakterien eine verwandte Grundstruktur haben. Neueren Forschungen zufolge gibt es nämlich drei mikrobiell-prinzipiell unterschiedliche Typen von Darmflora, ähnlich wie bei Blutgruppen. Die Wissenschaft vermutet, dass zwischen diesen Darmtypen und verschiedenen Krankheiten sowie entsprechenden Heilmitteln Zusammenhänge bestehen: Die zu entschlüsseln hilft my.microbes.eu. Wer will, kann sich da anmelden, mithilfe einer Stuhlprobe seine Darmflora untersuchen lassen und sich dann mit Chinesen oder Russen, die verwandte gastrointestinale Strukturen haben, austauschen, eine Art Facebook fürs Gedärm. Das gefällt mir. Die Leute quatschen auf den Social Media-Seiten über jeden Scheiß, sie kehren ihr Innerstes nach außen, aber hier ist es endlich mal sinnvoll.
Ich könnte weinen vor Bewunderung über den Ideenreichtum der Menschheit, das Tempo ihrer Entwicklung. Es ist keine fünfhundert Jahre her, dass Magellan die erste Weltumsegelung begann. Heute kann ich mit irgendeinem Menschen am anderen Welt-Ende eine Darmfreundschaft beginnen. Wen das nicht packt, dem ist nicht zu helfen.
Im Internet habe ich auch gelesen, Hannover sei die lauteste Stadt Deutschlands. Den Laien mag das verwundern, aber da ich in Braunschweig, sechzig Kilometer von Hannover entfernt, geboren und aufgewachsen bin, bestätigt das einen alten Verdacht. Wie oft haben wir uns damals nachts in den Betten gewälzt und fanden keinen Schlaf, weil bei ungünstiger Windrichtung ein beständiges Grummeln und Trommeln, ein Tosen und Blasen, ein Hämmern und Wummern, ein nicht nachlassendes, schepperndes Hannovern aus dem Westen in unser stilles Braunschweig drang, es war schlimm. Wir lagen unter Bergen von Kissen und seufzten uns in einen unruhigen Schlaf.
Später wurde Schröder Kanzler, der Dröhnemann aus Hannover, der lauteste Regierungschef, den wir je hatten. Dieses Braunschweig ist übrigens die zweitgrößte Stadt Niedersachsens, nach Hannover eben, und vielleicht weil ich an einem solchen Ort groß wurde, ist mir das Projekt des Südtirolers Hans Kammerlander aufgefallen.
Kammerlander ist von Beruf Extrembergsteiger, er besteigt Extremberge; für so einen sind gerade die höchsten Gipfel gut genug. Aber das ist im Falle Kammerlander vorbei, er hat ein anderes Projekt: Er möchte die zweithöchsten Gipfel der Kontinente besteigen, sieben an der Zahl, den K2 in Pakistan hat er geschafft, auch den Ojos del Salado in Süd-, den Mount Logan in Nordamerika sowie den Gora Dychtau in Russland, dann den Mount Kenya in Afrika, heuer schließlich den Puncak Trikora in Ozeanien; einzig der Mount Tyree in der Antarktis muss noch folgen.
Ist Kammerlanders Vorhaben nicht von geradezu umstürzender Bedeutung: dass wir uns abwenden müssen vom Prinzip des Größten, Schwersten, Wichtigsten? Wir sind damit an ein Ende gekommen. In der Leichtathletik erreichen nur Gedopte Weltrekorde, in der Wirtschaft beherrschen uns weltumspannende Konzerne, der Globus wird ruiniert von Gier nach immer Größerem.
Was wir brauchen, sind neue Grundsätze, ein Vize-Prinzip: Wir wenden uns dem Kleineren zu, dem Zweitgrößten, schließlich dem Dritten, Vierten, Fünften… Wir treten kürzer. Kommen von den Extrembergen herunter in die Ebenen. Frankfurt ist zweitlauteste Stadt Deutschlands, das reicht doch. Unsere Helden sind Michael Ballack, Bayer Leverkusen, der Schneefernerkopf statt der Zugspitze, das ZDF, Herr Rösler, auch Raymond Poulidor, der dreimal Zweiter und fünfmal Dritter wurde bei der Tour de France. Buzz Aldrin, der zweite Mann auf dem Mond.
Wir sollten uns darüber austauschen – nicht bei Facebook, bei Zweitbook oder so.
Illustration: Dirk Schmidt