Tägliches Problem zwischen Paola und mir: Sie verlegt dauernd irgendwelche Sachen. Beziehungsweise eben nicht »irgendwelche Sachen«. Sondern Sachen, die gerade dringend gebraucht werden. Die Brille, wenn man im Kino sitzt. Den Autoschlüssel, wenn man Auto fahren will. Den Wohnungsschlüssel, wenn man vor der Tür steht.Meine Rolle: die des Suchenden. Des Findenden. Des Klagenden. Im Laufe unseres Zusammenlebens haben sich meine Hirnstrukturen so entwickelt, dass ich binnen Sekunden nachvollziehen kann, wo Paola ihre Brille, ihren Auto-, ihren Wohnungsschlüssel zuletzt hatte, was sie danach getan hat und wo demzufolge wahrscheinlich die Gegenstände sich befinden. Seltsame Existenzform: Ich bin ein Ergänzungswesen für Paola. Ich habe, was sie nicht hat. Ich bin ein ausgelagerter Teil ihres Hirns. Ich bin ihre Suchfunktion.Indes: Ich hasse es. Ich wäre gern wie sie. Ich möchte auf der Stelle alle Brillen und Schlüssel vergessen und mich mit anderen Din-gen beschäftigen, wichtigeren, doch das geht nicht, achtzig Prozent meines Gehirns sind auf Stand-by fürs Sofortsuchen. Der Rest denkt an Fußball.Ich sage: »Paola, bitte, könntest du dir Folgendes merken? Man legt einen Schlüssel immer an dieselbe Stelle, dann muss man ihn nie suchen. Man legt eine Brille immer an dieselbe Stelle, dann muss man sie nie suchen.«»Darling«, sagt sie und küsst mich. »Du gehst mir auf die Nerven. Das ist nicht wichtig.«»Ist es doch«, sage ich.Nun passierte aber Folgendes.Ich musste verreisen, für zwei Tage. Das macht mich immer nervös, also zog ich morgens eine Hose an und zog sie wieder aus, weil sie mir für die Reise nicht geeignet schien. Ich zog ein Hemd an und zog es wieder aus, weil es mir für die Reise nicht geeignet schien. Ich zog Schuhe an und wieder aus.Dann war ich so weit. Ich steckte mein Geld in die linke hintere Hosentasche, meinen Schlüssel in die linke vordere Hosentasche und das Mäppchen mit den Kredit-, EC- und Bahnkarten in die rechte hintere Hosenta … Ha!Das Mäppchen war nicht da.Ich begann zu suchen, überall. Zunächst in der näheren Umgebung des Platzes, an dem ich immer das Mäppchen ablege. Dann in der weiteren. Unter den Betten. In der Waschmaschine. Im Blumenkübel. Ich bildete mir ein, das Mäppchen sei von der Kommode in Luis’ Schulranzen gefallen, und rief in der Schule an. Ich dachte, ich hätte es gestern an der Tankstelle liegen gelassen, und rief dort an. Ich glaubte, die kleine Sophie habe damit gespielt und es versteckt.»Kleine Sophie!«, sagte ich. »Hast du Papas schwarzes Mäppchen gesehen, es sieht aus wie ein Mini-Buch …«Sie rannte in ihr Zimmer und kam mit ihrem Lieblingsbuch zurück. »Buch!«, rief sie. »Lesen!«Ich resignierte. Rief die Bank an, die Kreditkartenfirma, die Bahn. Ließ alle Karten sperren. Jemand musste sie mir gestohlen haben. Oder ich hatte sie irgendwo liegen gelassen und dann hatte sie jemand genommen. Die Welt ist schlecht. Und ich musste zum Zug. Verreisen.Auf dem Bahnsteig klingelte mein Handy. Paola sagte, sie habe gerade eine meiner Hosen aufgeräumt und dabei in der rechten hinteren Tasche das Mäppchen gefunden. Ob sie es mir schnell bringen solle?»Nützt nichts mehr«, sagte ich. »Wenn die Karten gesperrt sind, sind sie gesperrt, dann bekommt man neue, das dauert Tage.«»Versteh mich nicht falsch«, sagte Paola. »Fast freut es mich, dass dir auch mal so was passiert.«»Jahrelang habe ich all deine Brillen und Schlüssel gesucht und gefunden – und nun sagst du das«, seufzte ich.»Mein Lieber«, sagte sie. »Ich habe von den zwanghaften Seiten deines Charakters profitiert. Aber es blieben doch zwanghafte Seiten.«Ich stieg in den Zug. Als der Schaffner kam, holte ich meine Fahrkarte aus der kleinen Innentasche meiner Aktenmappe, dem Platz, an dem ich sie immer aufbewahre. Als er sie mir zurückgab, faltete ich sie zusammen und steckte sie in die hintere rechte Hosentasche, dorthin, wo ich sie sonst nie aufbewahre.
Illustration: Dirk Schmidt