Heute hätte ich dringend etwas schreiben müssen, alle Termine sind abgelaufen, man fleht am Telefon um Texte, greint und bettelt, droht und brüllt, aber was wissen diese Leute schon?, was wissen sie .. ?Wenn ich in meinem kleinen Büro am Schreibtisch sitze, blicke ich auf einen noch viel kleineren Balkon, auf dem eine Clematis, zwei Rosen, drei Lavendel und vier Margeriten wachsen, natürlich nur im Frühling, Sommer und Herbst, im Winter wachsen sie nicht, sie sind einfach nur da, mit Ausnahme der Margeriten, die sind nicht mal das, sie sind dann weg.Heute Morgen geschah etwas auf diesem Balkon. Eine Elster setzte sich auf das Geländer, ein großer, schwarz-weißer Rabenvogel. Blickte auf die Clematis, die Rosen, die Lavendel und die Margeriten. Dann auf mich, am Schreibtisch hinter der offenen Balkontür.Eine Elster, mitten in der Stadt, warum nicht?Sie betrachtete mich, während ich am Telefon einen nervenschwachen Redakteur besänftigte, der mit erstickender Stimme erzählte, das Wort »Redaktionsschluss« habe sich wie eine Boa constrictor um seinen Hals gelegt, die Lieblingsschlange des Chefredakteurs nehme ihm die Luft, er könne kaum noch sprechen, und in der Tat hörte sich das Wort an wie »Redaktionsschluchz«, dann wie »Chedachionchchuch«, dann nur noch wie »Chuuuch«.»Ruuuhig«, sagte ich. »Ruuuhig. Heute Abend.«Als ich aufgelegt hatte, war die Elster weg.Aber ich hörte aus dem kleinen Bad neben dem Bürozimmer Geräusche, Flattern und Klacken, Trippeln und Scharren. Ich hatte das Fenster im Bad aufgelassen, ohne Zweifel war die Elster ins Bad eingedrungen – warum? Ich weiß gar nicht: Warum ist einem ein wilder Vogel in einem geschlossenen Raum unheimlich? Weil wilde Vögel nicht in geschlossene Räume gehören? Wie sie dort in Panik geraten, und weil ein in Panik geratenes Tier schrecklich ist? Weil man nicht von Flügeln geschlagen, von einem Schnabel bepickt werden möchte? Weil wir Hitchcock gesehen haben? Weil es die Vogelgrippe gibt?Ich lauschte an der geschlossenen Tür. Auf meinem Rücken: Gänsehaut … Dann fiel mir ein, dass ich ein Mann bin. Also öffnete ich die Tür. Einen Spalt.Da war nichts. Jedenfalls keine Elster. Auf dem Boden lag eine Packung Taschentücher, daneben Anti-Schnupfen-Tabletten. Ich vermutete, die Elster hatte es auf die Tabletten abgesehen. Sie waren in Glitzerfolie verpackt. Man weiß von Elstern, dass sie Glitzer lieben.Ich räumte das auf. Dann nahm ich das eine oder andere Buch aus dem Regal, las La Fontaines Fabel über Adler und Elster. Las Brehms Ausführungen, worin es heißt, dass man Elstern, jung gezähmt, sogar das Pfeifen von Liedern beibringen könne. Las etwas über Rossinis Oper Die diebische Elster, die auf Italienisch La gazza ladra heißt – und überlegte, ob das italienische Wort gazzetta für Zeitung von gazza, also der Elster, komme, denn von jeher gilt die Elster als Synonym für Geschwätzigkeit. Las aber, dies stimme nicht, gazzetta komme von einer venezianischen Silbermünze namens gazeta, mit der man wohl früher eine Zei-tung bezahlte.Dann fiel mir Süskinds Buch Die Taube ein, worin ein Mann durch das Erscheinen einer Taube auf dem Flur vor seinem Zimmer so sehr aus seiner geregelten Lebensbahn geworfen wird, dass … Ich nahm das Buch und las es auch. Es gefiel mir jetzt viel besser als vor knapp zwanzig Jahren, als ich es zum ersten Mal gelesen hatte. Dann war es spät. Ich ging noch mal ins Bad und entdeckte, dass die Elster gar nicht die Schnupfentabletten gewollt hatte; es fehlte aber ein Päckchen mit einem Mittel gegen Sodbrennen, auch verpackt in Alufolie.Ich ging heim. Im Treppenhaus dachte ich an den Redakteur. Wie es ihm wohl ginge. Was aus ihm würde, wenn er wieder nichts von mir bekäme. Ich dachte an die Elster, wie sie sich in ihrem Nest an der Glitzertablettenpackung freute. Oder wie sie eine Tablette schluckte und plötzlich auf eine für eine Elster sehr überraschende Weise vom Sodbrennen geheilt würde. Wie sie anderen Elstern davon erzählen würde. Wie morgen sehr viele Elstern auf dem Balkon warten würden wie vor einer Apotheke. Von Sodbrennen, Kopfweh, Erkältungen geplagte Elstern.Und dass ich morgen wirklich endlich etwas würde schreiben müssen, dachte ich.
Illustration: Dirk Schmidt