Moderne Märchen

Die Clintons klauen Möbel im Weißen Haus und bei Olympia wird nicht gedopt. Punkt. Unser Kolumnist Axel Hacke wundert sich, warum wir uns manchmal so gern belügen lassen.

Snopes.com ist eine ziemlich bekannte Internetseite, die Gerüchte, Lügen, Halbwahrheiten, Behauptungen und urban legends, die im Netz kursieren, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft und deren Entstehung recherchiert, ein Prüfstand für Schrottjournalismus, Märchenerzähler und politisch interessierte Nachrichtenerfinder.

Stimmt es, dass die Clintons gezwungen wurden, 200 000 Dollar für Möbel und Kunst zu bezahlen, die sie im Weißen Haus »gestohlen« hätten? Kam Richard Gere damals tatsächlich mit einem Hamster im Rektum ins Krankenhaus? Snopes.com erzählt die Wahrheit.

Im Guardian war ein Porträt von David Mikkelson zu lesen, einem der Gründer der Seite. Darin wird er so zitiert: »Ich bin nicht sicher, ob man es ein Post-Wahrheits-Zeitalter (post-truth age) nennen kann…Aber es hat eine Öffnung der Schleusentore gegeben, und alles strömt durch. Der Quatsch kommt schneller, als du pumpen kannst.«

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Interessant, nicht wahr? Das Internet, das der Vorstellung jenes Weltgehirns sehr nahe kommt, von dem der Science-Fiction-Autor H.G. Wells 1938 in seinem Buch World Brain träumte, verschafft uns Zugang zu jeder bekannten Wahrheit. Aber es ist gleichzeitig der Beginn eines Zeitalters der Lüge – und zwar in ihrer dreistesten, unverschämtesten und erfolgreichsten Form.

Der britische Außenminister Johnson zum Beispiel: ein Lügner, der unter anderem mit der penetrant wiederholten Behauptung, Großbritannien überweise jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU (und das sei noch eine Untertreibung), den Brexit erreichte; in Wahrheit waren – und sind es ja noch – nicht einmal 110 Millionen. Die Olympischen Spiele: eine verlogene Veranstaltung, zu der Sportler von Staaten entsandt werden, die mithilfe systematisch organisierten Dopings ungezählte ehrliche Athleten um den Erfolg betrogen haben. Wladimir Putin: ein Herrscher, der Verunklarung, Verwischung und Vertuschung der Wahrheit zum Erfolgsprinzip gemacht hat, in brillanter Weise: ein Künstler der Lüge geradezu. George W. Bush, der einen Krieg mit einer Lüge begründete, unter dessen Folgen die Welt schon lange leidet. Donald Trump: ein Mann, dem die Wahrheit so egal ist, dass er vermutlich nicht mehr weiß, wann er lügt. Und, um auch ein kleineres Licht zu nennen: Im baden-württembergischen Landtag sitzt tatsächlich ein antisemitisches AfD-Mitglied, das sich in seinen Schriften auf die Protokolle der Weisen von Zion beruft, eine der übelsten Lügen der Weltgeschichte.

Wie ist es möglich, dass ausgerechnet jetzt die Lüge solchen Erfolg hat, in jeder denkbaren Frechheit? Es muss damit zu tun haben, dass der Mensch nicht immer an der Wahrheit interessiert ist. Warum nicht? Weil ihm manchmal etwas anderes wichtiger ist. Was? Seine uralte Sehnsucht nach Geschichten, die ihm die Welt erklären, sie einfacher machen, verstehbar, die ihm Orientierung geben, einen Sinn. Für dieses Bedürfnis ist die Wirklichkeit manchmal zu kompliziert, zu anstrengend, zu schwer zu verstehen. Und je schwieriger die Lage wird, desto größer wird das Verlangen nach dem simpel Gestrickten, dem Anführer, der die Lösung kennt, dem Großmaul, der ein Land zu alter Größe führen will, der klaren Erzählung, in der alles Hin und Her in wunderbarer Eindeutigkeit verschwindet, dem Welt-Erklärer mit seinem Ich-mach-das-schon-für-Euch. Ob er lügt? Man fragt das gar nicht erst. Das Bedürfnis nach Ruhe, nach weniger Angst vor dem Unklaren ist wichtiger als die Wahrheit.

Hat die Wahrheit noch eine Chance? Das Verlangen nach Geschichten einer einfachen Welt ist eine Macht, der nicht leicht zu widerstehen ist: Die Versuchung ist zum Beispiel groß, Doping zu vergessen, sich den aufregenden Stories zu ergeben, die bei Olympia erzählt werden. Aber dann saßen da manchmal junge Sportler, die frank und frei sagten, dass der oder die neben ihnen Doping-Betrüger seien, nichts sonst. Und wenn es etwas Schönes in Rio gab, dann diese kleinen Augenblicke der Wahrheit.

Illustration: Dirk Schmidt