Fahrradkurier

Die zivilisationskritische Haltung, die jeder Fahrradkurier ausstrahlt, ist bereits durch die geschichtliche Entwicklung seines Berufszweigs vorgegeben. In den Großstädten des frühen 20. Jahrhunderts war dieses Übermittlungssystem weit verbreitet, bevor es durch den Siegeszug des schnelleren und bequemer zu bedienenden Automobils überflüssig wurde. Die ständige Erhöhung der Verkehrsbelastung jedoch sorgte für eine Wiederbelebung der längst ausrangierten Transportform, in den Siebzigerjahren in San Francisco und New York, Mitte der Achtziger in Europa. Seitdem sind die in respekteinflößender Tracht gekleideten Boten allgegenwärtig im Stadtbild; Autofahrer fürchten ihr offensives Auftreten im Straßenverkehr, ihre Ambition, auf den stockenden Verkehrswegen mit allen Mitteln schneller zu sein als die motorisierten Konkurrenten. Dass die Fahrradkuriere die Zivilisation gern im Vokabular der Wildnis beschreiben, ist daher nur konsequent. Die notorischen Metaphern des »Indianers« oder »Cowboys«, der sich im »Großstadtdschungel« durchschlägt, zeugen von der Genugtuung dessen, der sich der übertechnisierten Welt mit schierer Muskelkraft entgegenzustellen vermag.Kennzeichnend für das Erscheinungsbild des Fahrradkuriers ist ein augenfälliger Überaufwand: der aerodynamische Helm, die Kampfanzugartige Kleidung, die riesige Umhängetasche, aus der zumeist doch nur ein Standardkuvert oder eine Ampulle gezogen wird. Auch wenn die Arbeit im Akkord bezahlt wird und der Fahrradkurier mehr als ein Dutzend Aufträge pro Tag erledigt: Immer hinterlässt sein kurzer Auftritt den Verdacht, dass die Verbissenheit, das Hinaufhetzen ins Empfangszimmer zu einem beträchtlichen Teil Inszenierung ist, Ausdruck der Verachtung für jene Agenturen, Kanzleien und Praxen, für die die abgelieferte Fracht bestimmt ist. Der Fahrradkurier ist ein Performancekünstler der Vitalität, ein Virtuose der Fitness: Den trägen Büro-, Fahrstuhl- und Dienstwagenexistenzen demonstriert er, was an ursprünglicher, ökologisch verantwortlicher Lebensweise auch in unserer hochvermittelten Welt noch möglich ist. Wenn er wortlos durch die Foyers und Treppenhäuser hetzt – das Fahrrad ohne jede Kraftanstrengung geschultert, die entgegenkommenden Angestellten keines Blicks würdigend –, dann spricht aus jeder seiner schwitzenden Poren die Abscheu vor der entfremdeten urbanen Lebensform der anderen.Und doch weist seine ganze Physiognomie letzten Endes auf einen Widerspruch hin: Denn bei aller zur Schau gestellten Freiheit bleibt der Fahrradkurier einer der allerletzten Dienstboten unserer Gesellschaft. Den rein dienenden, im Namen eines Dritten handelnden Stand gibt es ja seit Jahrzehnten kaum noch; vielmehr steht die Sehnsucht nach Selbstverwirklichung mittlerweile auch im Zentrum der untergeordnetsten Biografien. Und vermutlich muss man das Übermaß an Selbststilisierung unter den Fahrradkurieren genau vor diesem Hintergrund verstehen: Sie bezieht sich auf die entfremdete Tätigkeit schlechthin, das Überbringen von Nachrichten. (In den Zeitungen kann man dagegen alle paar Monate bewundernde Reportagen über diesen Berufszweig lesen, über Hasardeure und Idealisten, die von der Freiheit ihrer Tätig-keit sprechen, dem geradezu anarchischen Potenzial.)Die Fahrradkuriere tun alles, um die Autonomie ihres Lebensentwurfs zu betonen, nennen sich messenger, um das Dienstbotenhafte schon aus dem Namen zu tilgen, organisieren regelmäßig Weltmeisterschaften im Kurierfahren, um das Fremdbestimmte des Überbringens in das Souveräne sportlicher Hochleistung umzumünzen, sich vom Objekt eines Boten in das Subjekt eines Champions zu verwandeln. Der Krieger und der Sportler: Nicht umsonst sind es die zwei gängigsten Ausprägungen des Helden, an denen sich die Kuriere ästhetisch und ideell orientieren. In Wahrheit stehen sie im Spektrum der Existenzformen genau auf der gegenüberliegenden Seite. Der Helm, der gepolsterte Anzug, die übergroße Sonnenbrille schützen den Fahrradkurier weniger vor den Gefahren des Stadtverkehrs als vor der kruden Erkenntnis seiner Lebenslüge.