Hanni und Nanni II

Die Frage, die sich sofort aufdrängt, ist klar. Wo zum Teufel ist Hanni? Wie kann man zwei Unzertrennliche einfach so auseinander reißen? Nun ja, es muss sein, das ganze Heft steht im Dienst der Zwillingsforschung und erst in der Trennung kann man eineiige Zwillinge wirklich studieren. Zunächst aber zeigt Hannis Fehlen eindrucksvoll, wie sehr man die beiden als Einheit wahrnimmt, selbst wenn man nie eine ihrer Geschichten gelesen hat: Wer Nanni sagt, muss auch Hanni sagen, sonst klafft plötzlich ein beunruhigendes Loch. Im Übrigen ist ihre gereimte Brutalkoppelung eine deutsche Erfindung: Im Original heißen Hanni und Nanni, die bekanntlich Engländerinnen sind und von einer Frau namens Enid Blyton erfunden wurden, Pat und Isabel – was zwar humaner klingt, aber auch weit weniger einprägsam. Obwohl anfangs die Unterschiede zwischen Hanni und Nanni noch betont werden, verschmelzen sie im Lauf der Serie doch mehr und mehr zu einer Figur. Bald scheinen sie grundsätzlich einer Meinung zu sein, denken und fühlen gleich und selbst zusammen genommen ergeben sie nur eine einzige, höchst eindimensionale Persönlichkeit. »Nanni, die Jüngere, ist eine ruhige Natur und die Vernünftigere der beiden«, behauptet kühn die Internet-Enzyklopädie Wikipedia, aber dieses Missverständnis liegt nur daran, dass sie viel weniger redet, und sie redet vermutlich deshalb weniger, weil ihr Name im Original doppelt so lang ist wie der ihrer Zwillingsschwester. Enid Blyton, eine unglaubliche Vielschreiberin, hat so ungefähr eine Woche Lebensarbeitszeit an der Schreibmaschine eingespart. Trotzdem: Jedes halbwegs intelligente Mädchen wollte als Kind lieber Nanni sein, weil Hanni irrsinnig streberhaft und aktiv unerträglich war, zum Beispiel wenn es darum ging, für die Lehrer und gegen die Mitschüler Partei zu ergreifen. Nanni war wenigstens nur die schweigsame Mitläuferin, und wenn sie doch mal den Mund aufmachte, kamen eher sympathische Sachen heraus. Wer die Gleichschaltung von Hanni und Nanni immer albern fand und allein der Faulheit ihrer Autorin zuschrieb, kennt nicht die realen Ergebnisse der Zwillingsforschung. Schon in den dreißiger Jahren untersuchte der amerikanische Humangenetiker Horatio H. Newman von der Universität Chicago eineiige Zwillingspaare, die frühzeitig getrennt wurden und in verschiedenen Familien aufwuchsen. Dabei machte er gespenstische Entdeckungen: Die Brüder Ed und Ned beispielsweise (schon rein vom Namen her die männlichen Pendants zu Hanni und Nanni) lernten sich erst im Alter von 22 Jahren überhaupt kennen – und stellten fest, dass sie beide als Monteure in verschiedenen Filialen derselben Firma arbeiteten; beide hatten im selben Jahr geheiratet und einen Sohn bekommen und beide besaßen einen Foxterrier, den sie, als ob das alles noch nicht genug wäre, jeweils »Trixie« getauft hatten. Für Genetiker war diese Studie ein Triumph. Denn was suggerierte sie anderes, als dass ein komplettes Leben, bis hin zum banalsten Detail, bereits im menschlichen Erbgut angelegt sei? Hanni und Nanni, so viel ist klar, trifft demnach keine Schuld – sie können halt nicht anders. Im Umkehrschluss stellt sich höchstens die Frage, wieso bei eineiigen Zwillingen, die exakt dasselbe Erbgut aufweisen, überhaupt manchmal Unterschiede feststellbar sind. Hier haben, zumindest in jüngster Zeit, die so genannten Umwelteinflüsse in der Forschung wieder an Bedeutung gewonnen. Gemeint sind damit aber weniger die Erziehung im Internat Lindenhof oder Frau Theobald, die weise Direktorin, sondern so genannte »epigenetische Faktoren«, chemische Modifikationen in der Protein-Umgebung des Erbguts. Sie können dafür sorgen, dass bestimmte Erbanlagen zum Zuge kommen – oder eben nicht. So wäre es durchaus möglich, dass Hanni schon kurz nach der Schule an einer tödlichen Erbkrankheit starb, von der Nanni bis heute verschont blieb. So tragisch das vielleicht war, es bot für Nanni doch eine tolle Chance: Sie könnte heute eine vollständige, sogar halbwegs spannende Persönlichkeit sein.