Lebenslänglich

Als einer der Mörder Walter Sedlmayrs Anfang August aus der Haft entlassen wurde, begann in den Boulevardmedien eine Diskussion, ob er seine Strafe ausreichend verbüßt habe. Wolfgang W., 1993 zu lebenslänglichem Freiheitsentzug verurteilt, kam nach 16 Jahren aus einem hessischen Gefängnis frei; sein Komplize und Halbbruder sitzt noch in einer bayerischen Haftanstalt, obwohl bei ihm, im Unterschied zu W., keine »besondere Schwere der Schuld« festgestellt worden war.

Die Zeitungsartikel nach Bekanntwerden der Nachricht waren von Empörung geprägt; eine Zeitung formulierte in der Schlagzeile, dass »München schockiert« sei über die »vorzeitige Freilassung«, und schrieb, dass es dem Täter gelang, »Justitia ein Schnippchen zu schlagen«, indem er sich nach Heirat und strategischem Wohnsitzwechsel der Ehefrau in einen hessischen »Kuschelknast mit Wellness-Oase« verlegen lassen konnte – in dem Wissen, dass Haftprüfungen in diesem Bundesland liberaler gehandhabt werden. Die Vehemenz der Artikel begründet sich zum einen mit der uneinheitlichen strafrechtlichen Praxis in Deutschland; dass »lebenslänglich« in Hessen etwas anderes bedeute als in Bayern.

Vor allem aber schwingt in der Skandalisierung der Entlassung etwas mit, was mit dem Prinzip der Strafform selbst zu tun hat und immer wieder auftaucht, wenn – wie etwa im Falle Brigitte Mohnhaupts vor einigen Monaten – ein zu lebenslanger Haft Verurteilter freikommt. Es geht um die Differenz zwischen der vorgegebenen Absolutheit dieser Strafe und der alltäglichen juristischen Praxis. »Lebenslänglich« bleibt heute kein Gefangener mehr in Haft; seit dem Jahr 1981 regelt in Deutschland ein Paragraf des Strafgesetzbuches zur »Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe«, dass jeder Verurteilte nach 15 Jahren die rechtliche Möglichkeit haben muss, zur Bewährung entlassen zu werden.

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Die Wut über die »vorzeitige« Entlassung eines Mörders wie Wolfgang W. – die nach juristischen Maßgaben eben keine vorzeitige, sondern eine gesetzlich vorgesehene ist – macht deutlich, dass die lebenslange Freiheitsstrafe in der Öffentlichkeit immer noch bestimmte Affekte hervorruft. Anders als zeitgebundene Haftstrafen, in denen der Gedanke der Resozialisierung im Vordergrund steht, ist dem Urteil »lebenslänglich« der bloße Vergeltungscharakter eingeschrieben: dass ein Staat den Kapitalverbrecher für alle Zeiten »wegsperrt«.

Dieser Vergeltungscharakter zeigt sich umso deutlicher, wenn man sich die Geschichte der Strafkategorie ansieht. Solange in einem Land die Todesstrafe verhängt wurde, spielten lebenslängliche Freiheitsstrafen eine untergeordnete Rolle. Sobald aber, wie etwa in Deutschland 1949, die Todesstrafe abgeschafft war, nahm »lebenslänglich« die Stellvertreterfunktion der Hinrichtung ein: als ultimatives Strafmaß, das kein Ende kennt, das nicht mit der Besserung des Verbrechers im Gefängnis rechnet, sondern die Tat sühnen will: eine auf Jahrzehnte ausgedehnte Todesstrafe bei lebendigem Leibe.

Bis in die 1970er-Jahre hinein wurde dieses Prinzip auch konsequent angewandt; eine Entlassung des Gefangenen war nur möglich durch einen individuellen Gnadenakt des Ministerpräsidenten eines Landes, im Durchschnitt nach etwa 25 Jahren. In einer juristischen Abhandlung heißt es noch 1974: »Das geltende Recht geht davon aus, dass die lebenslange Freiheitsstrafe auch lebenslänglich vollstreckt wird.« Erst im Jahr 1977 wies das Bundesverfassungsgericht die Regierung an, eine gesetzlich geregelte Befristung lebenslanger Freiheitsstrafen zu schaffen, was durch Widerstand im Bundesrat erst 1981 erfolgte. Der in der Strafform weiterhin ausgesprochene Charakter des Unabsehbaren findet also seit 25 Jahren keine reale Anwendung mehr.

Ein Fall wie der des Sedlmayr-Mörders zeigt jedoch, dass diese Umwandlung in der kollektiven Wahrnehmung noch nicht endgültig angekommen ist; dass »lebenslänglich« weiterhin den altbekannten Reflex der absoluten und endgültigen Bestrafung auslöst. In der Erregung nach der Entlassung Lebenslänglicher hat sich die Sehnsucht nach der Todesstrafe bewahrt.