Playlist

Um leuchtend weiße Kopfhörerstöpsel, 10 000 Songs in der Jackentasche und anderen technischen Schnickschnack geht es hier ausnahmsweise nicht. Der Begriff »Playlist« klingt zwar danach, ist aber doch nur der beste und eleganteste Ausdruck für den altbekannten Vorgang einer persönlichen Aneignung der Warenwelt. Schon wer als Jugendlicher seine erste Mixkassette aufnahm, überwand damit den Seinszustand des willenlosen Konsumenten. Der Auswahl des musikalischen Massengeschmacks stellte er seine eigene Auswahl von Platten und Künstlern entgegen und die vorgegebene Abfolge von Songs auf Alben und Best-of-Sammlungen durchbrach er durch individuelle Bewertungen und Kombinationen einzelner Stücke, die sich im Kontext der eigenen Weltsicht bewähren mussten. Jede Playlist ist das Ergebnis eines Geschmacksbildungswegs. Verdichtetes Wissen und Emotionen, notierbar mit einem Minimum an Ziffern und Buchstaben: Tracknummern, Künstler, Songtitel. So simpel und nüchtern es auf dem Papier aussieht, die Songabfolge einer Radiostunde, einer Clubnacht oder einer Mixkassette zu notieren – so groß ist doch die Bereitschaft, einige Schöpfer solcher Listen als Magier zu verehren. Erst waren es besondere Radiomacher, die eine Schar von Jüngern zu festgelegten Zeiten vor den Rundfunkempfängern versammelten, später dann Club-DJs, die mit dem Beat ihrer überlegenen Kennerschaft die Tänzer elektrisierten – aber mehr und mehr geht die Aufforderung an jeden Einzelnen von uns, sich mit einer Playlist zu offenbaren und sich damit als vollständige, selbstbestimmte Persönlichkeit zu definieren. Das Expertentum – früher vor allem gekennzeichnet durch den Zugriff auf Rundfunkarchive oder große Plattensammlungen – verliert seinen privilegierten Status im Zug der Digitalisierung und Vernetzung der Archive. Die Internet-Einspeisung des Weltmusikerbes ist nahezu abgeschlossen, das Öffnen einer Playlist nur noch wenige Mausklicks vom realen Musikerlebnis entfernt. Je einfacher, schneller und grenzenloser aber die Beschaffung der Ware wird, je klarer die Unmöglichkeit erkennbar ist, all die verfügbaren Angebote jemals wahrzunehmen, desto wertvoller wird das Wissen um die gelungene Selektion für das eigene Leben, den eigenen Freundeskreis, die soziale Gemeinschaft, der man sich zugehörig fühlt. Die SZ-Diskothek etwa verspricht nicht so sehr zwanzig Songs auf einer CD wie vielmehr das Wissen um diese Songs, ihr Zusammenspiel in einem Popjahrgang sowie zusätzliche Anekdoten und Überlegungen. Das Neon-Magazin geht sogar so weit, manchen Ausgaben nur noch eine reine Playlist beizulegen – für die Beschaffung der Songs ist dann jeder Leser selbst zuständig. Damit wird die Playlist ein Zeichen für den wachsenden Wert der Information in der Wissensgesellschaft – und für kommende Verschiebungen im Zusammenspiel materieller und immaterieller Güter. Außerdem ist sie eine Art Metasprache der emotionalen Verständigung geworden. In den USA, aber auch bereits in Ländern wie Brasilien, kommen junge Menschen kaum noch ohne eigenes Internetprofil auf Community-Webseiten wie »Myspace« oder »Orkut« aus – und ein entscheidendes Mittel, sich dort vorzustellen, ist die Liste der persönlichen Lieblingssongs. Der Konsens lautet: Die eigene Playlist gestattet sogar tieferen Einblick in die Seele als die meisten sprachlichen Bekenntnisse, sie ist schwerer zu definieren und entzieht sich eher der bewussten Manipulation. Dieser Logik folgten auch die Berater des amerikanischen Präsidenten George W. Bush, als sie im vergangenen Jahr die Playlist auf dem iPod des Präsidenten veröffentlichten. Ein Politiker, dessen verbale Statements längst nichts mehr wert sind, suchte einen weniger kontaminierten Kommunikationskanal zu seinen Wählern – und der Wahrheitsgehalt dieser Enthüllung war dann auch tatsächlich verblüffend: Seine Musikauswahl zeigte Bush exakt so reflexionsarm und konturlos, wie ihn seine Gegner schon immer porträtiert hatten.