Stephen Hawking

Die Charakterisierung Stephen Hawkings ist stets an Superlative gebunden. Als sich der britische Wissenschaftler vor kurzem in Deutschland aufhielt, um für sein neuestes Buch zu werben, ließen die Berichterstatter wieder einmal keinen Zweifel aufkommen, dass der »klügste Mensch aller Zeiten« zu Besuch sei; Reinhold Beckmann stellte ihn in seinem Fernsehinterview als »bedeutendsten Denker des Jahrhunderts« vor. Die öffentliche Einschätzung Hawkings steht, wie gelegentlich erwähnt wird, in zunehmendem Widerspruch zu seiner Reputation in der Welt der theoretischen Physik selbst; dort gilt er als renommierter Forscher unter vielen anderen, der sich in den letzten 15 Jahren, seit dem unvergleichlichen Erfolg seiner Kurzen Geschichte der Zeit, auf die populärwissenschaftliche Präsentation kosmologischer Fragestellungen konzentriert hat. Die Stellung Hawkings als Jahrhundertgenie und Nachfolger Albert Einsteins muss also weitere Gründe haben als den bloßen Gehalt seiner Forschungsergebnisse. Es scheint in der öffentlichen Wahrnehmung einen Zusammenhang zu geben zwischen der Erscheinung des an der Muskelschwäche ALS erkrankten Wissenschaftlers und seinem Status als Meisterdenker. Stephen Hawking ist nach einem Luftröhrenschnitt im Jahr 1985 nicht mehr in der Lage zu sprechen; seit einiger Zeit kann er seinen am Rollstuhl befestigten Sprachcomputer nicht mehr mit der Hand steuern, sondern nur noch durch Augenbewegungen. Die Faszination an Hawking ist also die Faszination vor dem reinen Geist: In der ausdruckslosen, zusammengekrümmten Gestalt offenbart sich die klare Essenz des Denkens, ohne Trübung durch einen wendigen Körper, durch wortreiche Kommunikation. Dieses Bündel Mensch ist nichts als Intelligenz; von ihm geht eine unendliche Verdichtung der geistigen Tätigkeit aus, die sich alles Entbehrlichen entledigen musste: von der Funktionstüchtigkeit der Gliedmaßen bis zu den grundlegendsten Arbeitsmitteln wie Stift und Papier. In der Hawking-Biografie von Michael White und John Gribbin heißt es an der Stelle, an der sie das Ausbrechen der Krankheit im Alter von 21 Jahren beschreiben: »Als einzig glücklicher Umstand in diesem Alptraum erwies es sich nun, dass sich Hawking ausgerechnet für theoretische Physik entschieden hatte, eines der ganz wenigen Gebiete, die im Grunde nur die reine Verstandestätigkeit erfordern.« Und genau diese Konsequenz hat ihn zur Ikone der Wissenschaft schlechthin gemacht: ein Gelehrtenleben, das mit dramatischer Ausschließlichkeit im Kopf stattfindet.Bedeutsam ist in diesem Hinblick, dass Hawking gerade die letzten Fragen der Menschheit stellt. Nicht weniger als das absolute Wissen steht auf dem Spiel – die »Weltformel« oder die »Formel Gottes«, wie es in den Besprechungen der Bücher gern heißt –, gemäß dem alten Mythos physikalischen Denkens, dass sich eines Tages mit einem einzigen Geistesblitz, mit einer einfachen Gleichung sämtliche Geheimnisse der Welt offenbaren ließen. Hawking selbst befeuert diesen Mythos regelmäßig durch raunende Prognosen über bevorstehende Erkenntnisse, die den Ursprung des Universums oder die Möglichkeit von Zeitreisen betreffen. Der reine Geist, der das Absolute im Blick hat: Es ist genau diese Kombination, die für den einzigartigen Ruf des Kosmologen sorgt. Er nimmt in der Öffentlichkeit mehr und mehr die Position eines Propheten ein, eines Wesens, das sowohl seiner Einsichten wie auch seiner Gebrechlichkeiten wegen nicht mehr ganz von dieser Welt ist. Die Erscheinung Stephen Hawkings, die untrennbare Einheit aus Elektrorollstuhl, Mensch und Sprachcomputer scheint seine Umgebung offenkundig zu einer Beschäftigung mit den größten Fragen zu animieren. Man erhofft sich von ihm, der sich selbst seit langem an einer äußersten Grenze menschlicher Existenz bewegt, einen Blick in Sphären, die keinem anderen zugänglich sind. Eindringlich vermittelte diesen Eindruck nicht zuletzt das Interview Beckmanns, der seinem Gast eine Reihe von Schicksalsfragen stellte und die vorbereiteten Antworten entgegennahm, als sitze er einem Orakel gegenüber.