Das Auge sitzt mit. Das war schon immer so, im Moment aber ist es besonders auffallend: Der Stuhl als Statussymbol und Accessoire ist der neue Eyecatcher der privaten Inszenierung. Befeuert von Wohnmagazinen und Design-Blogs gleicht manches Wohnzimmer in Berlin Mitte oder im Münchner Glockenbachviertel inzwischen mehr einem Showroom für Designmöbel, vor allem für ausgesuchte Stuhlklassiker. Sie sind die It-Möbel unserer Zeit, weil erschwinglicher als ein Perserteppich oder eine Sofalandschaft, vor allem aber leichter zu arrangieren. Lange war dieses Stühlerücken ein Hobby von Architekten, Designern, Galeristen. Heute ist der Markt für Designmöbel so breit, dass Hersteller erfolgreich alte Klassiker wieder aufleben lassen in Reeditionen oder überarbeiteten Neuauflagen. Die stellen wir dann gern um möglichst lange Tafeln: den Eames neben die Ameise von Arne Jacobsen, neben den Vintage Thonet. Das bewusst zusammengewürfelte Stuhlarrangement ist das Pendant zur Petersburger Hängung junger Kunst als Ausweis kultureller Geschmackssicherheit.
Wann das alles angefangen hat, kann niemand mit Bestimmtheit sagen, fest steht: Stühle prägen unser Dasein schon ziemlich lange. Millionen von Jahren hatte die Evolution gebraucht, um aus uns stolz und aufrecht schreitende Kreaturen zu machen. Kaum hatten wir uns erhoben, fingen wir an, Stühle zu bauen, um uns von den Strapazen des Gehens und Stehens auszuruhen. Und mit ihnen anzugeben. Mindestens seit der Jungsteinzeit sitzen wir auf Möbeln, denn Ausgrabungen förderten einfache Hocker und Schemel zu Tage. Der erste Stuhl im heutigen Sinne, mit vier Beinen und Lehne war ein Thron. Ägyptische Pharaonen blickten von ihm auf das einfache (und stehende bzw. auf dem Boden kauernde) Volk herab. Tutanchamun thronte auf einem goldenen Stuhl mit Armlehne und Fußstütze, eine Art Vorform des Lounge Chair, hatte aber auch allerlei majestätische Klappstühle für unterwegs. Schon damals war der Stuhl ein Rangmerkmal, reserviert allerdings nur für Herrscher und andere gottgleiche Gestalten.
Lang, sehr lang blieb er das auch. In der mittelalterlichen Kirche durften nur Mönche und Priester im Chorgestühl sitzen, während die Gläubigen stehen oder knien mussten. Nicht mal die Ritter an der berühmten Tafelrunde kamen in den Genuss, sich mal richtig zurückzulehnen – sie saßen auf Hockern.
Der Stuhl demonstrierte Macht. Ein Erbe, das sich bis heute im Sprachgebrauch festgesetzt hat, etwa im Vorsitzenden (»chairman«), der über seinen Angestellten thront. Erst ab dem 16. Jahrhundert fand er seinen Weg in die Häuser Normalsterblicher. Der englische Tischler Thomas Chippendale war Mitte des 18. Jahrhunderts einer der Ersten, der aus dem Thron ein Möbel machte, das man in Serie fertigen konnte. Seine Stühle waren ein Mix aus Rokoko, Gotik und chinesischer Schreinerkunst und verbreiteten sich schnell, zunächst nur unter Aristokraten und jenen, die sich dafür hielten.
Ein Möbel für jedermann wurde der Stuhl erst etwa 100 Jahre später, als Michael Thonet in Wien eine Technik erfand, Rundhölzer so zu biegen, dass man daraus schlichte, zerlegbare, vor allem aber erschwingliche Kaffeehausstühle in großer Zahl herstellen konnte. »Nr. 14«, der berühmte, mit der doppelt geschwungenen Rückenlehne, war ein Megaseller: Bis 1930 verkaufte seine Firma mehr als 50 Millionen Exemplare davon. Für den Kulturhistoriker Gert Selle hat er darüber hinaus noch die Sozialform des Sitzens für immer verändert, »weil er (und der auf ihm sitzende Körper) so beweglich war, dass Interaktionssituationen ohne Umstände hergestellt und rasch wieder aufgelöst werden konnten«. Mit anderen Worten: Sein Beitrag zur Völkerverständigung als Basis der europäischen Kaffeehauskultur, in der zusammengesessen und palavert wird, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Heute gilt der »Nr. 14«, als erste Stuhl-Ikone der Designgeschichte, auch wenn ihr Schöpfer kein Designer war, sondern ein cleverer Tischler.
Danach waren es die Architekten der Moderne, die das Sitzen revolutionierten. Meist aus schierer Not, und auch aus Eitelkeit: Sie fanden einfach kein Mobiliar, das gut und neu und radikal genug war, um ihre kühnen Bauten zu schmücken. Also machten sie es einfach selbst und räumten dabei mal schnell den verstaubten Krempel eines ganzes Jahrhunderts beiseite.
Als Marcel Breuer 1925 seinen Stahlrohrstuhl »B3« vorstellte, den er für das Bauhaus-Atelier von Wassily Kandinsky in Dessau entworfen hatte, war das ein Kulturschock, weil er nichts weniger als das Ende der Gemütlichkeit einläutete. Breuer selbst nannte ihn zwar zärtlich »Clubsessel«, doch die kühle Konstruktion aus gebogenem Stahlrohr, über das sich dünne Stoffstreifen spannten, glich mehr dem Skelett eines Sessels und mutete wie ein Zwischenstufe an, auf dem Weg ihn ganz verschwinden zu lassen. Für viele, die damals mit wuchtigen Ohrensesseln und Biedermeierstühlen groß geworden waren, muss es irritierend gewesen sein, in einem industriell gefertigten Möbel zu sitzen, das weder gepolstert war, noch die Aura des Handgemachten verströmte. Im »B3« spiegelte sich die Technikbegeisterung und Schnörkellosigkeit des modernen Maschinenzeitalters wider. Und die Weniger-ist-mehr-Vision eines Gestalters, der insgeheim davon träumte, irgendwann nur noch »auf einer elastischen Luftsäule zu sitzen«.
Der Stuhl ist das expressivste Möbel, das wir haben.
Auf der Suche nach neuen Werkstoffen und Produktionsverfahren experimentierten Designer fortan mit allem, was der Fortschritt hergab: Charles und Ray Eames zum Beispiel gelang es, Schichtholz, später Fiberglas und Plastik so zu verformen, dass es sich wie ein Abdruck um den Körper schmiegte. Ihr »Lounge Chair Wood« von 1946 und die Stühle der »Plas-tic Shell Group« gelten heute als Ikonen des organischen Designs und zeigten, dass man keine Polster braucht, um bequem zu sitzen. Sie waren auch erste Versuche, Designmöbel so preiswert zu produzieren, dass jeder sie sich leisten konnte. Eine Idee, die im gleichen Jahr ein gewisser Ingvar Kamprad in Schweden mit seiner Firma Ikea sehr viel radikaler anging, doch das ist eine andere Geschichte.
Die neue Formenvielfalt die durch Kunststoff seit den Sechzigerjahren möglich wurde, ließ das Pop-Zeitalter auch im Stuhldesign anbrechen. Verner Pantons ausladende, bunte Freischwinger, Eero Aarnios schwebende Sitzkugeln möblierten eine Welt, in der Utopien noch möglich schienen. Sie läuteten die Postmoderne ein, in der die Formenspielerei noch etwas weitergetrieben wurde, getreu dem Motto: »Weniger ist langweilig«. Heute ist es daher schon schwerer, mit einem Stuhl noch Aufsehen zu erregen. Auch weil es so viele gibt. Fast 16 000 Treffer erhält man, wenn man im Produktkatalog der Webseite »Architonic« nach Sitzmöbeln sucht, die Designer in den vergangenen 150 Jahren entworfen haben, davon allein 5 400 verschiedene Stuhlmodelle. Mit jeder Möbelmesse werden es an die Hundert mehr.
Glaubt man Rolf Fehlbaum,dem ehemaligen Chef des Möbel- und Stuhlherstellers Vitra, ist das Thema Sitzen trotzdem noch lange nicht auserzählt, ja wird es wohl nie sein, auch wenn die Basics – eine Horizontale für den Hintern, eine Vertikale zum Anlehnen, wohl immer gleich bleiben werden: »Der Stuhl bildet die Persönlichkeit des Designers ab, und er selbst ist auch eine: Er hat Arme, Beine, Füße, einen eigenen Charakter. Der Stuhl ist das expressivste Möbel, das wir haben. Dieses komplexe Wesen kann man immer wieder neu erfinden.«
Der britische Industriedesigner Sam Hecht sieht im Stuhl eine »Leinwand«, an der sich jede Designer-Generation neu verwirklicht. So wurde der Stuhl zur Königsdisziplin, gerade weil sich alle an ihm versuchen. Was nicht weiter verwunderlich ist, denn mit keinem Möbel verbindet uns mehr. Unsere Stuhlkarriere beginnt mit dem Maxi-Cosi und klingt mit dem Rollstuhl aus. Unsere Beziehung zu ihm ist mehr als eng, sie ist körperlich: Er ist eine Art Vollkontaktmöbel, das uns hält und umfängt, fast wie Kleidung. Die Steigerung davon sind Bürostühle, die ergonomisch so hochgezüchtet sind, dass sie wie Hightech-Prothesen wirken. Einen Stuhl hat man nicht, man »besitzt« ihn und zeigt ihn deshalb auch gerne her. Er sagt etwas über uns aus, auch über unsere Haltung.
Jede Zeit sitzt anders. In der höfischen Gesellschaft saß man aufrecht, meist etwas steif. Im Biedermeier schon etwas lockerer und gemütlicher. Heute gibt es keine Regeln mehr, das Fläzen und Herumlungern wurde zum Lebensstil einer ganzen Generation, deren Lebensmotto die »Lounge« war. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich das Aufsehen nachvollziehen, für das 2004 ein Stuhl sorgte, der auf den ersten Blick eine Zumutung war. Der »Chair One« von Konstantin Grcic, eine wabenförmige Sitzschale aus Stahlgitter, die auf einem Betonkegel ruhte, war sperrig und sah auf den ersten Blick eher aus wie eine kubistische Skulptur. Genau das machte jedoch seine befreiende Wirkung aus. Die Botschaft war: Jetzt ist mal Schluss mit Lounge.
Für Grcic steht fest: »Es wird immer neue Stühle geben, weil sich unser Sitzverhalten ständig ändert. Sollte es bald wirklich Autos geben, die sich selbst steuern, werden wir neue Sitze brauchen. Welche, in denen man beweglich ist. Man muss ja schließlich nicht mehr die Hände am Steuer haben. Der Stuhl reagiert auf den technischen Wandel, manchmal nimmt er ihn sogar vorweg.« Noch eine Spur philosophischer sieht es der Industriedesigner Stefan Diez: »Natürlich könnte man sagen: Warum Fortschritt, was soll der Aufwand, es gibt doch schon alles? Doch so funktionieren die Menschen nicht. Es gibt auch eine Million Songs. Und es reicht uns trotzdem nicht.«
Die Bestuhlung der Welt wird also weitergehen. In hundert Jahren wird man unsere Stühle von heute entweder vergessen haben oder im Museum bewundern. Vielleicht wird man sich auch wundern, über die schrullige Retrolust der Postnuller-Jahre, als eine ganze Generation nur Augen für verdiente, aber alte Designklassiker hatte, statt sich den großartigen Entwürfen ihrer Zeit zuzuwenden. Wo die alle sind? Blättern Sie einfach um.
(Foto: Axel Roe / Italy Chronicles)