»Ich sitze hier und schaue dir zu, wie du auf dem Trampolin springst, wie du mit deinen Armen flatterst, weil du dich freust. So unbeschwert und losgelöst bist du selten. Und ich frage mich: Bist du wirklich glücklich, Luis? Geht es dir gut? Du bist das Rätsel meines Lebens …«
2015
Diese Worte schrieb Tanja B. im Mai an ihren damals neunjährigen Sohn. Ein seltener schwereloser Moment für beide. Luis (Namen aller Kinder geändert, Anm. der Redaktion) springt hoch in die Luft, lässt vor Freude die Arme flattern, als könnte er fliegen. Und das kann er ja auch, für diesen einen kurzen Moment. Er hüpft, er macht Handstand auf dem fest gespannten Sprungtuch, er lässt sich mit Karacho in den Schneidersitz fallen. Er schaut hinüber in den Garten, wo seine jüngeren Geschwister mit Nachbarkindern spielen. Sie beachten ihn nicht, er ruft lauthals: »Hier kommt der Trampolinkünstler!« Aber niemand schaut zu. Er hopst und hopst, er blickt in die Fensterscheibe und betrachtet sein Spiegelbild. »Siehst du dort einen glücklichen Jungen?«, fragt sich seine Mutter, die ihn beobachtet. »Geht es dir gut? Würdest du lieber mit den anderen Kindern spielen?«
2006
Luis wurde am 28. Juni 2006 geboren, am 22. Geburtstag von Tanja B. »Er war das ruhigste Baby der Welt«, erzählt sie. Und schon damals flatterte er gerne mit Händen und Armen, hoch und runter, hoch und runter. »Das fand ich lustig.«
Je älter Luis wurde, desto lauter wurde er. »Er schrie den ganzen Tag und ich wusste nicht, warum«, erzählt Tanja. Er ließ sich nicht auf den Bauch legen, er krabbelte nicht, er lernte nicht laufen und sprach kaum. Luis brauchte feste Abläufe, fürs Essen, fürs Spielen, fürs Schlafen. Wenn etwas nicht so war, wie er es wollte, wurde er böse. Mit zweieinhalb Jahren kam er in eine Krabbelgruppe, er brüllte wie am Spieß, wenn er gebracht wurde. »Ich heulte jeden Tag, während ich rausging«, erinnert sich seine Mutter.
Irgendwas war anders mit diesem kleinen blonden Jungen, der so unglücklich mit sich und der Welt wirkte. Der so wenig gemein zu haben schien mit den anderen Kindern in der Gruppe. Dass seine Entwicklung nicht altersgerecht war, wusste Tanja, aus einer früheren Beziehung hatte sie eine fünf Jahre ältere Tochter. Doch ihr Alltag war herausfordernd genug. Der Vollzeitjob als Arzthelferin, daheim die drei Kinder. Schulkind Jennifer, Kleinkind Luis, Baby Hannah. Und dann war da noch Ehemann Sascha. Der ihr das Leben manchmal leichter und sehr oft schwerer machte.
2009
Luis’ erstes Wort war »Köln« - die geliebte Heimatstadt seines Vaters Sascha, ein großer Fan des 1. FC Köln. Überhaupt, meinte Saschas Großmutter, sei Luis durch und durch »ein kleiner Sascha«: nicht besonders interessiert an anderen Menschen, manchmal aggressiv, verzögert in der Entwicklung. Erst mit drei Jahren zum Beispiel lernte Luis laufen, kam in den Kindergarten und schrie immer noch, wenn er hingebracht wurde, Tag für Tag. »Nach einem halben Jahr bat die Leiterin uns um ein Gespräch«, erzählt Tanja. »Mein Mann und ich ahnten, dass was nicht stimmt, auch wenn wir es lieber verdrängen wollten.«
Das ging nun nicht mehr. Die Erzieherin zählte auf: Luis kommuniziert weder mit ihr noch mit anderen Kindern. Luis steht meist einfach nur im Raum und schaut zu. Luis weint, wenn ihn jemand berühren will. Luis verhält sich passiv, zieht sich in sich selbst zurück. Luis zeigt kaum Mimik. Luis führt oft Selbstgespräche, ansonsten schweigt er. Luis beteiligt sich nur am Spiel, wenn es feste Regeln gibt.
»Und auf einmal benutzte sie dieses Wort: Autismus.«
Tanja B. hatte vorher noch nie etwas damit zu tun, noch nie etwas darüber gehört. »Ich kannte gerade mal das Wort.« Sie fand schnell heraus: Autismus ist ein Syndrom und drückt sich in einer Vielfalt von Symptomen aus. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die das soziale Verhaltensrepertoire einschränkt, aber auch die kognitive und motorische Entwicklung betreffen kann. Auch Funktionen wie Körperwahrnehmung oder das Bewusstsein des eigenen Ichs sind häufig eingeschränkt. Zu den Diagnosekriterien zählen die Störung von Interaktion und Kommunikation, aber auch Stereotypen und Rituale. Unterschieden werden frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und atypischer Autismus. Da heute jedoch in der Praxis erkannt wird, dass die Unterscheidung der einzelnen Formen schwerfällt, spricht man als Oberbegriff von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS).
Wo genau Autismus im Gehirn entsteht, warum er entsteht, was ihn auslöst, ist bisher unbekannt. So wie Kinder mit Autismus für ihre Eltern oft ein Rätsel darstellen, bleibt der Autismus für die Wissenschaft bis heute rätselhaft. Autismus wird heutzutage bei knapp einem Prozent der Bevölkerung festgestellt, die Zahlen sind aufgrund der verbesserten Diagnostik und der Ausweitung der Definition in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Und Luis sollte einer von ihnen sein?
Als Tanja und ihr Mann nach dem Gespräch mit der Kindergartenleiterin heimkamen, setzten sie sich an den Küchentisch. Klappten ihre Laptops auf, begannen im Internet zu recherchieren, auch wenn sie wussten, wie verstört eine solche Google-Recherche einen zurücklassen kann. Zuerst stießen sie auf frühkindlichen Autismus, sie lasen und lasen, das passte alles irgendwie nicht, dann fanden sie einen neuen Begriff: Asperger.
Tanja konnte kaum die Augen abwenden von dem, was da geschrieben stand, was ihr erschien wie ein Abbild ihres eigenen Familienlebens. Sie erkannte Luis wieder, sie las weiter, schaute hinüber zu Sascha und dachte auf einmal: »Ach du scheiße.«
Sie erinnerte sich an die Male, als Sascha von zuhause einfach losgelaufen war, wenn ihm mal wieder alles zu viel wurde. Zwanzig Kilometer, mitten in der Nacht. An die Male, als er bei der Arbeit einfach aufstand und ging. Die vielen Kündigungen und Jobwechsel. All die Dinge, die Tanja ihn schon an die Wand werfen hat sehen, Tassen, Schüsseln, Handys.
Tanja B. wollte das Wort Autismus nie wieder hören und doch gleichzeitig alles darüber lernen, was es zu lernen gab.
In guten Zeiten war Sascha ein verlässlicher Vater und Partner, der die Kinder liebte, der Tanja liebte – auf seine Weise, in seinem Tempo und zu seinen Bedingungen. Aber in schlechten Zeiten, das hatte sie über die Jahre immer wieder erfahren, fuhr er aus der Haut. Wenn Dinge in Unordnung gerieten, wenn Menschen unpünktlich waren, sich nicht an Vereinbarungen hielten. Wenn etwas nicht so funktionierte, wie es sollte. Und jetzt funktionierte sein eigener Sohn nicht so, wie er sollte. Auf einmal war da für Tanja B. nur noch ein Loch. Wochenlang verschwand sie darin, verwirrt, verunsichert. Doch irgendwie ging es weiter, geht es ja immer in einer Familie. Kinder müssen in die Schule, Waschmaschinen angemacht, Brote geschmiert werden. Tanja B. machte weiter. Sie trieb die Diagnose für Luis voran. Wollte Klarheit und zugleich nur verdrängen. Wollte das Wort Autismus nie wieder hören und doch gleichzeitig alles darüber lernen, was es zu lernen gab.
2010
Wenige Wochen später, im März 2010, hatte die Familie ihren ersten Termin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ein mulmiges Gefühl. Der moderige Geruch im Treppenhaus, die abgeschabte Farbe vom Geländer, das sich kratzig unter ihrer Hand anfühlte: Daran erinnert Tanja sich bis heute. Im Untersuchungsraum stellte ein Psychiater sofort Auffälligkeiten beim vierjährigen Luis fest. Wenig Gestik, stereotype Verhaltensmuster, Schwierigkeiten, sich auf neue Situationen einzulassen. Nach mehreren weiteren Terminen äußerte der Psychiater den dringenden Verdacht auf Autismus (gerade bei Kindern vergehen von der Verdachtsdiagnose bis zur offiziellen Diagnose aufgrund der komplexen Testung oft mehrere Jahre). Da er noch so jung war, empfahl der Arzt den Eltern eine Familientherapie.
Ja klar, machen wir. Therapie also. Lange Sitzungen begannen, in denen die Therapeutin versuchte, Luis’ Wesen zu ergründen, seine Vorlieben und seine Ängste, seinen Alltag, sein Familienleben.
»Wie waren Sie selbst als Kind, eher mutig oder eher ängstlich? Hatten Sie Schwierigkeiten in der Schule? Gibt es Krankheiten in der Familie?«, all das wollte die Therapeutin von den Eltern wissen. »Wie gehen Sie mit Konfliktsituationen um? Wie reagieren Sie auf unbekannte Situationen? Auf Herausforderungen, auf emotionale Belastungen?«, fragte sie, nachdem Sascha sie zum fünften Mal getadelt hatte, weil die Sitzung mit zwei Minuten Verspätung begann. Und auf einmal: »Herr B., wann wollen Sie sich denn testen lassen?«
Bis Sascha seine Diagnose erhielt, sollten noch zwei Jahre vergehen. Doch in dem Moment, in dem Luis’ Therapeutin diesen Satz aussprach, in diesem gemütlichen Raum mit den rotgepolsterten Stühlen, den leicht vergilbten Tapeten und den selbstgemalten Kinderbildern an der Wand – in diesem Moment löste sich für Tanja ein Rätsel, das sie seit sechs Jahren verfolgt hatte. Seit sie Sascha B. zum ersten Mal begegnet war.
Folge 1: Wenn dir dein Kind ein Rätsel ist
Folge 2: »Macke oder Manie? Egal, dieser Mann ist mein Retter«
Folge 3: Tanja und Sascha: Die Geschichte einer besonderen Beziehung
Folge 4: »Ich habe ein paar Tabletten zuviel genommen« – Als Autismus für Familie B. zum Albtraum wurde
Folge 5: »Wir sitzen im Wohnzimmer und schicken uns WhatsApp« – Familienalltag mit Autismus
Folge 6: Kämpfen bis zur Selbstaufgabe – Als Tanja nicht mehr konnte und Sascha über sich hinauswuchs
Folge 7: Vierzig Jobs, immer angeeckt - Sascha und das Arbeitsleben
Folge 8: Wir und die anderen – So reagieren Freunde und Nachbarn