Familie B. lebt in einer Kleinstadt. Schön ist es dort, die Menschen kennen sich, sie reden viel miteinander. Und übereinander. Besonders gerne reden sie über Familie B. Denn die ist ja schon merkwürdig. Irgendwie nicht ganz normal. Wenn Sascha mal wieder nass aus dem Dorfteich herausklettert, weil er sich nach einem Overload abreagieren musste, stehen die Leute da und gucken. Oh, da hat der Herr B. wohl schon wieder… Das war jetzt das dritte Mal in dieser Woche. Und die Kinder, die sind ja auch … Die arme Frau, wie die das aushält.
Wenn Tanja am nächsten Tag zum Bäcker geht, wird sie angesprochen: »Na, wie geht’s euch denn?« Tanja erwidert dann ungerührt: »Uns geht’s gut!« – »Ja, du hast es ja auch nicht leicht mit dem kranken Mann und den kranken Kindern.« Inzwischen lacht Tanja darüber. Früher fiel es ihr schwer, sich nicht gekränkt zu fühlen. Von Menschen, die das nichts angeht. Die keine Ahnung haben, was diese Beziehung, diese Familie wirklich ausmacht.
Wenn sich Hannah oder Luis auf der Straße heulend zu Boden werfen, weil der Bus zwei Minuten zu spät kommt oder weil der Lieblingspulli so eklig kratzt, dann gucken die Leute auch. Die Kinder sind schon so groß, was schreien die denn herum. Verwöhnte Bälger, die kriegen wohl zuhause alles. Manche grinsen belustigt, andere beschweren sich. Was das Kind in diesem Moment durchmacht, weiß keiner. Was die Mutter in diesem Moment durchmacht, interessiert auch keinen.
Selbst wenn die Kinder nicht aus voller Kehle brüllen, fallen sie unangenehm auf. Was für ein unhöfliches Mädchen, das niemandem die Hand gibt. Was für ein rüpelhafter Kerl, der nicht reagiert, wenn man ihn anspricht.
Und was Kindern noch irgendwie verziehen wird, ist für einen Erwachsenen völlig inakzeptabel. Letzten Sommer waren die B.s zu einem Grillfest eingeladen, Sascha betrat den Garten, sah einen entfernten Bekannten, den er nicht ausstehen konnte. Er drehte sich wortlos um und ging. Ohne Erklärung für Tanja oder die Gastgeber. Auch Saschas Overloads passieren nicht nur zuhause. Sie kommen auch in aller Öffentlichkeit über ihn. Einmal waren Freunde zum gemütlichen Essen bei ihnen, sie gingen und gingen nicht – bis Sascha es irgendwann nicht mehr aushielt, den Tisch mitsamt Geschirr und Speiseresten hochriss, durch die Gegend schleuderte und wegrannte. Manche, die Sascha in Aktion erlebt haben, können damit umgehen. Andere nicht – so dass die beiden inzwischen einige Freunde weniger haben. Sascha ist das egal. Er will und braucht gar keine Freunde.
Als Sascha zu Tanja zog, lange vor seiner Autismus-Diagnose, wollte sie ihm helfen, Freunde im Ort zu finden. Er war zufrieden mit seiner Arbeit und seiner Familie, aber wäre es nicht schön für ihn, auch ein paar Kumpel zu haben? Sie ermutigte ihn, sich den Fußballverein anzusehen. Die ersten Trainings schienen gut zu laufen, irgendwann kam er heim und sagte: »Da geh ich nicht mehr hin.« – »Warum?«, fragte sie, er antwortete nicht. Wochenlang igelte er sich zuhause ein, machte nur noch Kreuzworträtsel und Sudokus, sprach nicht mehr, sagte immer bloß: »Lass mich in Ruhe.«
Viel später erst fand sie heraus: Sascha war angeeckt mit seiner Art, die sehr direkt ist, taktlos gar, wie manche finden. Zufällig hatte er nach einem Training gehört, wie andere über ihn geredet hatten. Ein Mitspieler, mit dem es einen Zweikampf und im Anschluss eine kurze Meinungsverschiedenheit gegeben hatte, hatte in der Dusche über Sascha gesagt: »Der ist doch geistig behindert.« Sascha fiel in ein tiefes Loch, weil er kritisiert worden war. Weil die Leute ihn nicht so akzeptierten, wie er war. »Die meisten Menschen denken, Autisten sind unsensibel«, sagt Tanja. »Aber das stimmt nicht. Saschas Gefühle gehen sehr tief und können schwer verletzt werden.«
Tanjas großer Freundeskreis hat sich erheblich reduziert, seit sie Sascha kennt. Viele sind überfordert mit seiner Mischung aus brutaler Ehrlichkeit und jähen Wutausbrüchen. Viele reagieren verärgert, wenn Tanja Einladungen kurzfristig absagt, weil sie Sascha in einer depressiven Phase nicht alleine lassen will. Viele sind genervt, weil Tanjas Leben durch die vielen Therapien und Arzttermine der Kinder so durchgetaktet ist, dass selbst ein Kaffee schwer zu organisieren ist.
An diesen Mann in ihrem Leben mussten sich Tanjas Freunde erst gewöhnen. Als Tanja mit James schwanger war, saßen sie und Sascha einmal mit einer Freundin am Küchentisch und sprachen über Babynamen. Weil Tanja amerikanische Wurzeln hat, kam sie auf die Idee, dem Kind einen englischen Namen zu geben. »Matthew«, sagte die Freundin. »Dillon«, schlug Tanja vor. Plötzlich wurde Saschas Gesicht rot vor Zorn, er sprang auf und rannte wutentbrannt zur Tür. Nach einer Stunde kam er klatschnass zurück und die Freundin fragte: »Regnet es draußen?« Er ging schweigend an ihr vorbei und Tanja wusste: Da war wieder mal der See fällig gewesen. Was sie nicht wusste: Warum diesmal? Erst Wochen später gestand es ihr Sascha. Sein Englisch sei so schlecht und er habe Angst, den Namen seines Kindes nicht aussprechen zu können.
Eine enge Freundin hat Tanja – deren Mann hat zwar keine Diagnose, aber ähnliche Probleme wie Sascha. Auch die Männer haben sich angefreundet, sehen sich meist wochenlang nicht, reden, wenn sie sich sehen, kein Wort, aber finden beieinander das Verständnis, das ihnen von anderen oft fehlt.
Auch Tanjas Eltern fanden Sascha zunächst komisch. »Mein Gott, der ist doch nicht normal!«, sagte ihre Mutter anfangs oft. »Du, Sascha ist schon wieder abgehauen«, erzählte Tanja ihr am Telefon. Wenn ihre Mutter ihn das nächste Mal sah, sagte sie: »Hey, Sascha, was hast du jetzt wieder angestellt?« Aber sie nahm es ihrem exzentrischen Schwiegersohn nicht übel. Heute weiß sie, dass er ihre Tochter liebt, weiß, dass er unberechenbar und eigensinnig ist, aber auch ehrlich, loyal und treu. Ein Mann zum Festhalten und ein Mann zum Haareausraufen. Wenn Tanja ihr jetzt erzählt: »Der Sascha ist in den Teich gesprungen.« Dann antwortet sie nur: »Na, das musste wohl mal wieder sein.«
Sascha tut es gut, als Schwiegersohn gemocht zu werden. Zu seiner eigenen Familie ist das Verhältnis kompliziert. Sein Vater verließ seine Mutter während der Schwangerschaft, seine Mutter arbeitete viel, hatte verschiedene Männer, auch gewalttätige. Darum wuchs Sascha größtenteils bei seinen Großeltern auf, sieht die Mutter heute nur sporadisch. Vor drei Jahren versuchte Tanja, Kontakt zum verschollenen Vater aufzunehmen und fand unerwartet zwei Halbbrüder: Sie stellte fest, diese ähnelten Sascha in Charakter und Verhalten sehr. Irgendwann erreichte sie auch seinen Vater, der ihr erklärte, er wolle nichts von seinem Sohn wissen. Zwei Monate darauf erfuhren sie von seinem Tod.
Wenn Tanja sich wünscht, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, zieht Sascha sie einmal schnurstracks durch und meint dann stolz: »Jetzt sind wir doch schön gebummelt.«
Die fehlende Vaterfigur in seinem Leben hat bei Sascha zum Wunsch geführt, selbst ein guter Familienvater zu sein zu wollen, einer, der sich um seine Kinder kümmert, der für seine Frau da ist. Das tut er, das ist er. Und dennoch ist es eine Beziehung in Schieflage: Auf Tanja lastet alle Verantwortung für die Organisation und Bürokratie dieses komplexen und fragilen Gebildes, das ihre Familie ist. Tanja kümmert sich um Anträge, um Gutachten, um die bestmögliche Förderung für die Kinder. Tanja arbeitet Schichtdienst als Altenpflegerin, weil die sechsköpfige Familie nur von Saschas Rente nicht leben könnte. Und Tanja steht abends kopfschüttelnd, manchmal ungläubig lachend, sehr oft verzweifelt vor der Pinnwand mit all den Terminen, die nötig sind, um Luis, Hannah und auch Sascha das Leben zu ermöglichen, das sie sich für alle wünscht.
James kommt dieses Jahr in die Schule, Hannah soll die Schule wechseln. Während Tanja Tag und Nacht darüber nachdenkt, welche Schule, welcher Weg zwischen Inklusion und Förderschule für die Kinder am besten wäre, sagt Sascha einfach: »Entscheide du.« Und: »Ach, das wird schon.« Wenn sich die Entscheidung hinterher als die falsche herausstellen sollte, wird er sagen: »Du wolltest das ja so.«
Mit einem Mann verheiratet zu sein, der sein eigenes Leben kaum im Griff hat und doch Verantwortung für das gemeinsame Familienleben übernehmen soll: Was sich für andere absurd anhört, ist für Tanja Alltag. »Ich liebe diesen Mann«, sagt Tanja. Und genau das ist es, was so oft auf Unverständnis stößt. Weil alle sehen, was Tanja für Sascha tut. Und weil niemand bemerkt, was Sascha für Tanja tut.
Sascha hasst Menschenmengen. Aber wenn Tanja sich wünscht, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, nimmt er ihre Hand, zieht sie einmal schnurstracks von vorne bis hinten durch und meint dann stolz: »Jetzt sind wir doch schön über den Weihnachtsmarkt gebummelt.«
Tanja liebt die Musik von Pink. Als sie einmal Karten für ein Konzert in der Nachbarstadt bekam, fuhr Sascha selbstverständlich mit. Sie machte Party, er saß neben ihr und spielte Sudoku. »Die Leute dachten wohl auch, der hat sie nicht alle«, sagt Tanja.
Tanja ist sehr chaotisch. Wenn sie mal wieder ihr Handy sucht, pfeffert Sascha seines zornig an die Wand – aus Unverständnis darüber, wie man einen so wichtigen Gegenstand verlegen kann. Danach hilft er ihr suchen. Und findet das Handy immer als erster.
Tanja geht gerne spazieren. Sascha läuft dann immer ungeduldig einen halben Meter voraus und erzählt ins Leere gerichtet von seinem Tag. Tanja sagt: »Schatz, du musst mit MIR reden.« Sascha läuft weiter, erzählt weiter, aber dreht sich alle paar Meter um und hält für eine Millisekunde Blickkontakt zu ihr.
Denn Sascha liebt diese Frau.
Es ist nicht die Art Liebe, die Gefängnismauern sprengt oder Landesgrenzen überwindet. Und doch ist es eine Liebe, die viel Mut erfordert, viel Stärke und auch ein gutes Stück Selbstaufgabe – von beiden Seiten. »Für manche mag er ein schräger Vogel sein, ein komplizierter Mensch«, sagt Tanja. »Für mich ist er mein Ehemann und mein bester Freund.« Oft sagt Tanja zu ihm: »Ich liebe dich.« Und trifft auf Schweigen. »Er hat es nicht auf dem Schirm zu erwidern: ›Ich liebe dich auch‹.« Aber wenn Tanja ihm sagt, dass er ihr bester Freund ist, antwortet er immer: »Du auch.«
Folge 1: Wenn dir dein Kind ein Rätsel ist
Folge 2: »Macke oder Manie? Egal, dieser Mann ist mein Retter«
Folge 3: Tanja und Sascha: Die Geschichte einer besonderen Beziehung
Folge 4: »Ich habe ein paar Tabletten zuviel genommen« – Als Autismus für Familie B. zum Albtraum wurde
Folge 5: »Wir sitzen im Wohnzimmer und schicken uns WhatsApp« – Familienalltag mit Autismus
Folge 6: Kämpfen bis zur Selbstaufgabe – Als Tanja nicht mehr konnte und Sascha über sich hinauswuchs
Folge 7: Vierzig Jobs, immer angeeckt - Sascha und das Arbeitsleben
Folge 8: Wir und die anderen – So reagieren Freunde und Nachbarn