Folge 3: Tanja und Sascha – Die Geschichte einer besonderen Beziehung

Behördengänge, Lehrergespräch, Finanzen: Solche Dinge überfordern Sascha meist. Doch kann ein Elternteil die Verantwortung für sechs Familienmitglieder stemmen? Der dritte Teil unserer Serie über Autismus.

Je größer die Familie wurde, desto intensiver wurden Saschas Ausbrüche. Am Anfang schrie Tanja zurück: »Was ist jetzt schon wieder los, spinnst du eigentlich?« Doch sie merkte bald, dass sie es damit nur schlimmer machte.

Illustration: Paula Bulling

»Wenn ihm alles zu viel wird, haut er ab«, sagt Tanja.

»Da laufe ich manchmal zwanzig Kilometer durch die Nacht«, sagt Sascha.

»Er ist einfach weg, ich habe keine Ahnung, wo er ist«, sagt Tanja.

Meistgelesen diese Woche:

»Manchmal rufe ich sie an: Kannst du mich abholen, ich bin hier auf dem Berg und mir ist so kalt«, sagt Sascha.

»Daheim fliegen öfter Sachen an die Wand«, sagt Tanja.

»Ich hatte bestimmt schon dreißig oder vierzig Handys«, sagt Sascha.

»Oder er springt mitten im Winter in den eiskalten See hier im Dorf, um sich abzureagieren«, sagt Tanja.

»Und danach laufe ich klatschnass durch die Gegend«, sagt Sascha. »Da gucken die Leute ganz schön …«

»Auch von der Arbeit haut er ab, wenn es nicht so läuft, wie er will«, sagt Tanja.

»Ich hatte bestimmt schon dreißig oder vierzig Jobs«, sagt Sascha.

Tanja und Sascha B.: Es ist eine Liebe, die es laut medizinischem Lehrbuch nur selten gibt. Saschas Ärzte hatten Autismus bei ihm zunächst ausgeschlossen, mit der Begründung, er sei schließlich verheiratet. Natürlich sind die beiden nicht das einzige Paar, in dem ein Mensch mit Autismus und ein Mensch ohne täglich die Hürden des Zusammenseins meistern. In verschiedenen Studien mit Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung gaben etwa die Hälfte an, in einer Beziehung zu leben, ebenfalls ungefähr die Hälfte berichteten andererseits, gar keine Freunde oder Bekannte zu haben. Einer Studie der Universität von Toronto zufolge sind nur 9 Prozent der von Autismus betroffenen Menschen verheiratet. Ein Kampf gegen die Statistik also?

Es tat weh zu hören, dass sie vielleicht gar keine Chance hätten. Dass vielleicht sogar das Wort Liebe für die Beziehung mit einem Autisten zu hoch gegriffen sei, wie ihnen die Ärzte sagten. Tanja, die nie an Sascha gezweifelt hatte, verspürte auf einmal Zweifel. »Kann ich das?«, fragte sie sich nach den ersten Gesprächen mit Ärzten. Und manchmal sogar: »Will ich das?« Erst viel später sollte sie erfahren, dass die angebliche Beziehungsunfähigkeit bei Menschen wie Sascha eine überholte Einschätzung ist, die heute von vielen Autismus-Experten nicht mehr geteilt wird.

Die Mediziner blieben nicht die einzigen, die diese Ehe mit Skepsis beäugten. Tanjas Umfeld, ihre Familie, ihre Freunde und Arbeitskollegen schütteln den Kopf, wenn sie mal wieder eine typische Sascha-Story erzählt: Dass er zwei Wochen lang nicht mit ihr gesprochen hat, weil sie im falschen Moment ein falsches Wort verwendet hatte. Dass sie meistens keine Antwort bekommt, wenn sie sagt: Ich liebe dich. Dass sie nicht in den Arm genommen wird, wenn sie weint. Die Freunde fragen: Wie schaffst du das? Und: Sollte ein Partner nicht genau dafür da sein?

Als Antwort auf diese Fragen schreibt Tanja B. in ihrem privaten Blog »Es ist Liebe, wenn auch anders…«. Sie will damit sagen, dass sie eine Welt betreten hat, die den meisten Menschen verborgen bleibt. Es hat lange gedauert, es hat viel Mut erfordert, es erfordert immer noch viel Mut, Kraft und Verständnis, Tag für Tag. Doch Tanja hat einen Zugang in diese geheime Welt gefunden. In die Welt der Autisten.

Eine verrückt normale Familie: Mutter Tanja, Vater Sascha. Er fand mit 33 Jahren heraus, Autismus zu haben. Luis, 11 (ganz links), gilt als vom Autismus schwer betroffen, bei Hannah, 10 (vorne links), ist das Syndrom etwas schwächer ausgeprägt. James, 6 (vorne Mitte), hat ADHS. Jennifer, 17 (vorne rechts), ist Tanjas Tochter aus einer früheren Beziehung und, wie sie, »neurotypisch«.

Illustration: Paula Bulling

2005

Die Beziehung der beiden begann schon dramatisch. Einmal wurden Tanja und Sascha filmreif im Auto verfolgt, als sie nach einem ihrer ersten Dates zu Tanja fahren wollten. Es war der eifersüchtige Ex-Freund. Ein andermal, als Tanja von der Arbeit kam, stand dieser mitten in ihrem Wohnzimmer, mit einem Messer in der Hand. In diesen Momenten wurde Tanja klar: Sascha, der neue Mann in ihrem Leben, war ihr Retter.

Wenige Wochen später drehten sich ihre Rollen. Sascha wurde selbst Opfer eines Raubüberfalls. Während seiner Nachtschicht kamen zwei Männer in die Tankstelle, schlugen ihn mit einem Vorschlaghammer nieder. Zurück blieben eine Narbe am Arm, panische Angst im Dunkeln, panische Angst vor allem, was mit Geld zu tun hat. Und es blieb noch etwas: das Vertrauen zu einer Frau, die ihn erst seit kurzem kannte und trotzdem unerschütterlich an seiner Seite war. Tanja und Sascha, sie wurden zum Bollwerk in diesen Wochen, die ihnen im Nachhinein wie ein Actionfilm vorkamen. In einer Welt von Gewalt, Aggression, Unsicherheit hatten sie sich.

Noch immer lebten sie dreihundert Kilometer voneinander getrennt. Als Sascha einmal wieder bei Tanja zu Besuch war, gingen sie auf ein Dorffest. Jemand krakelte bierselig, man kriege keine Arbeit in der Region. Sascha erwiderte: »Natürlich! Man muss es nur wollen.« Er bewarb sich, nur aus Jux, nur um den Mann Lügen zu strafen, auf eine Stelle als stellvertretender Leiter des Getränkemarkts im Ort – und bekam sie prompt. Sascha dachte: Na gut, dann zieh ich halt her.

Keine vier Monate nach dem ersten Treffen im Juli 2005 lebten Sascha, Tanja und ihre vierjährige Tochter Jennifer, die aus Tanjas voriger Beziehung stammt, nun zusammen in einer kleinen Wohnung. Es fühlte sich richtig für Tanja an. Doch je enger die Bindung, je enger die räumliche Nähe wurde, desto deutlicher erkannte sie, dass sie einen Mann in ihr Leben gelassen hatte, der speziell war. An guten Tagen etwas ganz Besonderes. An schlechten Tagen einfach nur verrückt.

»Krass, eine Person gefunden zu haben, die diese Ehe mitträgt«, dachte Sascha.

Tanja rückt den Wohnzimmerstuhl in die falsche Ecke des Raums? Tanja kommt später nach Hause als ausgemacht? Tanjas Tochter Jennifer lässt ihre Spielsachen herumliegen? Sascha will im Garten arbeiten, aber ein Regenguss durchkreuzt seine Pläne? Die Kollegen räumen die Regale im Supermarkt kreuz und quer ein, völlig ohne Logik, ohne System? Sascha reagiert. Erst wird er ganz still, schaut nur noch an Tanja vorbei, kaut auf seinen Fingernägeln herum. Er ist den Tränen nah, aber er sagt nichts, er kann nichts sagen. Und dann geht es los. Dann fliegen Klamotten aus dem Fenster, Handys und Suppenschüsseln an die Wand. Dann haut Sascha einfach ab, läuft durch die Nacht oder springt bei Minusgraden in den eiskalten Dorfteich.

In diesen Momenten fühlt Sascha nichts. Gar nichts. Einmal kochte er in seiner Wut Wasser auf und goss sich die glühende Flüssigkeit über die Hände.

»Erst zwei Stunden später fing es an, weh zu tun«, sagt Sascha.

»Wenn die Wut vorbeizieht, ist er wieder normal«, sagt Tanja. »Naja, was heißt normal.«

»Erlöst von dem Chaos im Kopf«, sagt Sascha.

2006

Verliebt waren sie schnell, zusammengezogen noch schneller – und kurz darauf war Tanja auch schon schwanger. Sie konnten es kaum erwarten, ein gemeinsames Leben zu beginnen. Tanja war im neunten Monat, als ihr und Sascha beim Einkaufen im Supermarkt der Gedanke kam: »Eigentlich könnten wir doch heiraten.« Knapp ein Jahr nach ihrem Kennenlernen und anderthalb Monate vor der Geburt ihres ersten gemeinsamen Sohnes Luis fand die Hochzeit statt: am 19. Mai 2006.

Am Vortag, dem 18. Mai, war Tanja allein zuhause. Es klingelte an der Tür, vor ihr stand der Gerichtsvollzieher. In der Hand ein Schreiben von einer Partnervermittlung, der Sascha B. sechstausend Euro schulden würde. Wie bitte?

Später am Tag, als Sascha nach Hause kam, beichtete er ihr die ganze Geschichte, erzählte, dass er vor Jahren auf eine Betrugsmasche hereingefallen wäre und, wie andere Kunden auch, einen Blanko-Vertrag unterschrieben hätte. »Es war nicht seine Schuld«, sagt Tanja. Doch plötzlich erfuhr sie: Da war noch viel mehr, was sie nicht wusste über den Mann, den sie doch am nächsten Tag heiraten wollte. Sascha hatte weitere Schulden. Ausstehende Zahlungen, Mahnungen, Strafen, weil er bürokratische Angelegenheiten vor sich hergeschoben hatte. Sie stellte fest, er konnte nicht mit Versicherungen telefonieren, schaffte es nicht, Ratenzahlungen zu vereinbaren, ließ riesige Gasrechnungen liegen. Hatte Panik vor Behörden, vor Bankberatern, vor den Stadtwerken.

Kann man mit so jemandem eine Beziehung führen? Tanja stellte die Ehe, die noch nicht einmal begonnen hatte, auch jetzt nicht in Frage. Sie schluckte, als Sascha den Stapel ungeöffneter Briefe anschleppte, sie machte sich Gedanken über die Zukunft. Aber sie machte sich keinen Moment Gedanken, ob diese Zukunft mit irgendjemand anderem als genau diesem Mann stattfinden sollte. Ach, ich bin doch auch nicht ganz normal. Das war ihre Haltung. Und Sascha? Der dachte nur: »Krass! Krass, eine Person gefunden zu haben, die diese Ehe mitträgt.«

Manche Beziehungen gehen auseinander, weil der eine die Zahnpastatube nicht zudreht. Und manche Beziehungen bleiben zusammen, obwohl der eine, der die Zahnpastatube nicht zudreht, befürchten muss, dass der andere vor Wut darüber die halbe Badeinrichtung aus dem Fenster schmeißt. Perfekt ist ihre Beziehung nicht, das wusste Tanja, nachdem die erste Verliebtheit abgeebbt war. Aber sie wusste auch, dass sie es nicht anders haben wollte. Dass Sascha trotz und gerade wegen seiner Defizite alles für seine Familie tun würde. Dass jeder von ihnen beiden sein Bestes gab.

2008

Zwei Jahre nach der Hochzeit und der Geburt von Luis kam Hannah auf die Welt. Von Autismus ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand etwas, wenn auch Luis’ Entwicklungsverzögerung von Tag zu Tag offensichtlicher wurde. Nun waren sie also eine Großfamilie, Tanja und Sascha. Jennifer aus Tanjas erster Beziehung, Sohn Luis, nun Hannah.

Der Alltag wurde hektischer, unberechenbarer. Tanja arbeitete wieder Vollzeit als Arzthelferin – es fehlte an Zeit, für alles und für alle. Und dann war da neben Säugling Hannah ja auch noch Luis, der ständig schrie, auch mit zwei Jahren noch nicht laufen konnte, viel Aufmerksamkeit verlangte. Sascha fehlte immer mehr die Routine, die er so dringend benötigte, die aufgeräumten Zimmer, die Gewissheit, dass alle sich pünktlich zur Abendbrotzeit um den Tisch versammelten.

Immer öfter rastete er aus, rannte aus dem Haus, wenn Tanja ihn aufhalten wollte, schrie und brüllte, schmiss um sich mit dem, was ihm zuerst in die Finger kam: Handys, von denen er alle paar Wochen ein neues brauchte. Kaffeetassen. Teller, noch gut gefüllt mit Rinderbraten oder Risotto. Am Anfang schrie Tanja zurück: »Was ist jetzt schon wieder los, spinnst du eigentlich?« Doch sie merkte bald, dass sie es damit nur schlimmer machte. Schon die Frage »Was ist los, was regst du dich auf?« war in diesem Moment zu viel. Vermittelte ihm, dass sie kein Verständnis für ihn hatte.

»Du verstehst mich nicht«, brüllte er. Ja, sie verstand ihn auch nicht. Sie war verletzt, aber sie biss die Zähne zusammen. Sie musste sich ja um die Kinder kümmern, musste sie schützen und trösten, wenn sie Angst bekamen vor dem tobenden Vater. Sie musste versuchen, die Familie zusammenzuhalten, auch wenn während Saschas Anfällen alles um sie herum zu zerbersten schien.

Wenn er nicht brüllte, schwieg er. Ignorierte sie, wenn sie ihn ansprach. Ignorierte sie, wenn sie weinte. Einmal weinte sie im Schlafzimmer, ihre Tochter ging zum Vater: »Du, Mama weint da drüben«. Es war ihm egal. Es war nicht der richtige Zeitpunkt für ihn, mit seiner Frau zu sprechen, also sprach er nicht mit seiner Frau.

Eines Tages bekam Tanja bei der Arbeit einen Anruf von ihrer Mutter, die in der Nähe lebte: »Jennifer hat mich gerade verzweifelt angerufen, dein Mann ist weg.« Sascha hatte an diesem Nachmittag frei, er hatte sich um die Kinder kümmern sollen, nun waren Jennifer, Luis und Hannah offenbar allein. Tanja raste nach Hause, in der Wohnung lagen Klamotten, Geschirr, Möbel überall verteilt, Chaos, mittendrin Saschas Personalausweis, seine Kreditkarte – und sein Ehering.

Sascha ließ sich den ganzen Tag nicht blicken, es wurde Abend, es wurde Nacht, er war nicht auf dem Handy zu erreichen. Tanja war in Sorge, aber auch gekränkt, weil der Ring dort lag, weil doch alles in Ordnung gewesen war, als sie sich verabschiedet hatten. Was hatte er jetzt schon wieder? Wo war er? Sie wusste: Sascha ist pflichtbewusst, seine Arbeit ist ihm wichtig, wenn er irgendwo auftaucht, dann dort. Also fuhr sie zu seiner Firma, um ihn vor der Frühschicht zu erwischen, fuhr um vier Uhr nachts auf den Parkplatz und wartete auf ihn. Er kam und erklärte sich.

Du hast die Spülmaschine morgens nicht ausgeräumt.

Tanja konnte es nicht fassen. Das war der Grund? Was folgte, waren die schwersten Jahre in Tanja B.s Leben. In denen Dinge passierten, von denen sie nie geglaubt hätte, diese zu ertragen und zu überstehen. Dieser Tag und diese Nacht im Jahr 2008 waren für Tanja die Vorboten dessen, was ihre leicht verrückte Familie an den Rande des Wahnsinns treiben sollte.

Folge 1: Wenn dir dein Kind ein Rätsel ist
Folge 2: »Macke oder Manie? Egal, dieser Mann ist mein Retter«
Folge 3: Tanja und Sascha: Die Geschichte einer besonderen Beziehung
Folge 4: »Ich habe ein paar Tabletten zuviel genommen« – Als Autismus für Familie B. zum Albtraum wurde
Folge 5: »Wir sitzen im Wohnzimmer und schicken uns WhatsApp« – Familienalltag mit Autismus
Folge 6: Kämpfen bis zur Selbstaufgabe – Als Tanja nicht mehr konnte und Sascha über sich hinauswuchs
Folge 7: Vierzig Jobs, immer angeeckt - Sascha und das Arbeitsleben
Folge 8: Wir und die anderen – So reagieren Freunde und Nachbarn