Folge 2: »Macke oder Manie? Egal, dieser Mann ist mein Retter«

Eine neue Serie des SZ-Magazins erzählt von einer Familie, in der gleich drei Mitglieder von Autismus betroffen sind. Folge 2 handelt davon, wie sich die Eltern Tanja und Sascha B. kennengelernt haben. Und wie es für Sascha war, mit 33 Jahren herauszufinden, Autismus zu haben.

»Der mag es aber salzig«, dachte Tanja B. bei einem der ersten Dates mit Sascha, als dieser den halben Salzstreuer über seinen Salat gab. Erst später erfuhr sie, dass seine Vorliebe für Salz mit seinem Autismus zusammenhängt: Sascha braucht das intensive Geschmackserlebnis, um überhaupt etwas zu schmecken.

Illustration: Paula Bulling

Autisten können ihren Mitmenschen nicht in die Augen blicken.
Autisten haben keinerlei Bedürfnis nach Körperkontakt.
Autisten haben keine Chance auf eine normale Partnerschaft.
Autisten wissen nicht, was Liebe ist.

Es gibt zahlreiche Klischees über Autisten. Manche stimmen, manche nicht. Manche stimmen nicht für jeden, nicht in jeder Ausprägungsform. So wie bei Sascha, der erst 2011, mit 33 Jahren, die Diagnose Asperger-Syndrom bekommen sollte, zwei Jahre, nachdem bei seinem kleinen Sohn Luis der starke Verdacht auf Autismus geäußert wurde.

Sascha lernte als Kind spät laufen und sprechen, stotterte, dachte schneller, als er reden konnte. Sein Vater verließ seine Mutter noch während der Schwangerschaft. Weil sie arbeiten musste und häufig wechselnde Freunde hatte, wuchs er bei den Großeltern auf. »Meine Mutter hat sich nicht groß um die Probleme gekümmert«, sagt Sascha heute. »Irgendwann stand der Verdacht auf ADHS im Raum, aber da hieß es nur: Der ist halt ein Zappelphilipp.«

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Es dauerte drei Jahrzehnte, bis Sascha B. klar wurde, warum er immer anders gewesen war als die anderen. Warum er nie so ganz in diese Welt, in diese Gesellschaft, in das, was gemeinhin als Normalität bezeichnet wird, zu passen schien. Warum er oft aneckte, oft überfordert, verzweifelt war und sich missverstanden fühlte – sogar von seiner Frau.

Sascha liebt seine Frau und liebt seine Kinder. Doch manchmal erträgt er andere Menschen einfach nicht, auch nicht die, die ihm am nächsten sind. Es fängt meist damit an, dass Sascha immer schweigsamer wird, immer nervöser, an den Fingernägeln knabbert und sich zurückzieht. Tanja spürt dann, wie seine Körperhaltung sich verändert, wie er sich anspannt und in Abwehr geht. Im Sommer, wenn er T-Shirts trägt, reicht ihr ein Blick auf seine Oberarme und sie weiß: Bald ist es wieder soweit. Seine Adern quellen hervor, sein Blutdruck steigt. Es geht weiter damit, dass ein Wort fällt, das in diesem Moment zu viel ist. Ein Stuhl etwas zu laut gerückt wird oder ein Messer etwas zu schief auf den Tisch gelegt wird. »Was wollen wir heute zu Abend essen?«, fragt Tanja. Sascha dreht sich um, verlässt wortlos den Raum. Eine Eiswolke bleibt zurück. Schließlich die Explosion: Sascha rastet aus. Brüllt. Wirft mit Gegenständen, rennt weg. Ganz normal ist das nicht – das wusste Sascha immer. Nur warum er so ist, das wusste er nicht.

Eine verrückt normale Familie: Mutter Tanja, Vater Sascha. Er fand mit 33 Jahren heraus, Autismus zu haben. Luis, 11 (ganz links), gilt als vom Autismus schwer betroffen, bei Hannah, 10 (vorne links), ist das Syndrom etwas schwächer ausgeprägt. James, 6 (vorne Mitte), hat ADHS. Jennifer, 17 (vorne rechts), ist Tanjas Tochter aus einer früheren Beziehung und, wie sie, »neurotypisch«.

Illustration: Paula Bulling

2010

In einem Klinikum in der Nähe seines Wohnortes unterzog er sich einem Autismus-Test. Das Resultat: Verdacht auf ADHS. Der Psychiater schloss Autismus aus mit der Begründung: »Sie sind ja verheiratet und Sie halten Blickkontakt.« Ein Autist, der eine feste Beziehung führt und seinem Gegenüber in die Augen sieht? Kann nicht sein. Doch Sascha spürte eine innere Gewissheit, auf der richtigen Spur zu sein. So sehr, dass er etwas tat, was er nie zuvor getan hatte: Er ergriff die Initiative. Er recherchierte weiter, tagelang. Er schrieb Kliniken und Spezialisten an, deutschlandweit. Und er fuhr fünfhundert Kilometer mit dem Zug, ganz alleine, denn Tanja musste bei den Kindern bleiben. 2011, ein Jahr nach der ersten Untersuchung, nach etlichen Fragebögen und Anamnesegesprächen erhielt Sascha endlich die Diagnose: Asperger-Syndrom.

2005

Tanja und Sascha hatten sich über ein Online-Datingportal kennengelernt. Tanja befand sich zu dieser Zeit noch in einer Beziehung mit dem Vater ihrer Tochter Jennifer, verliebt war sie aber längst nicht mehr. Ihr Freund war unzuverlässig und unberechenbar, kümmerte sich selten um die Tochter. Alle Arbeit für die kleine Familie blieb an Tanja hängen. Irgendwann fand sie heraus: Ihr Lebensgefährte schlug Jennifer, sobald sie selbst aus dem Haus ging. Aus Angst wollte sie die Kleine nicht mehr mit dem Vater alleinlassen, aus Angst schaffte sie es auch nicht, sich von ihm zu trennen.

Saschas Profilbild bei diesem Portal gefiel ihr sofort. Dieses Grinsen, das kaum verbergen konnte, wie unwohl er sich beim Fotografieren gefühlt haben musste: gezwungen offenherzig und auf sympathische Weise verletzlich. Sie schrieb ihn an, er schrieb zurück. Die beiden chatteten ganze Nächte hindurch, es folgten stundenlange Telefonate, in denen sie ihm ihr Leid klagte, in denen er sich verständnisvoll zeigte, um Lösungen für ihre Probleme bemüht, interessiert an ihrem Leben und ihrer Tochter.

Egal, ob er isst, telefoniert oder der Frau seines Herzens gegenüber sitzt – Sascha zählt. Wenn er damit fertig ist, macht er Zählspiele im Kopf.

Sieben Jahre älter war er als sie, lebte dreihundert Kilometer entfernt und arbeitete in einer Tankstelle. Er war der Gegenpol zu dem Mann, mit dem sie zusammenlebte, schien solide, verlässlich und machte sofort einen Plan: »Wir treffen uns, ich komme zu dir.« Er war alles, was Tanja in diesem Moment wollte und brauchte.

Sascha wiederum war fasziniert davon, wie unerschütterlich Tanja zu ihrer Tochter stand. Er stammte selbst aus einer komplizierten Familie, war aufgewachsen ohne Vater, ohne Stabilität. Und da war dann diese Frau, die sich so loyal und verantwortungsvoll ihrer Tochter gegenüber verhielt. Ihr erstes Treffen: auf dem Parkplatz vor einem Baumarkt, im Gewerbegebiet bei Tanjas Heimatort. Sie stiegen beide aus dem Auto, schauten sich an. »Ist der dünn«, dachte Tanja, als sie diesen hochgewachsenen Mann sah. »Ist die schön«, dachte Sascha, als er die blauen Augen dieser Frau sah. Sie fühlten: Es ist richtig so.

Sie fuhren zu einer alten Ruine in der Nähe, setzten sich auf die Steinstufen und redeten, von mittags bis spätnachts. Wenige Tage später besuchte Tanja ihn in seiner Stadt, sie bummelten durch die Fußgängerzone, gingen essen. Er war so fürsorglich, er hielt ihr alle Türen auf, er war der perfekte Gentleman. Zurückhaltend, aber charmant. Höflich, fast altmodisch in seiner sehr korrekten Art. Ganz anders als der Vater ihrer Tochter. Aber ganz anders auch als alle anderen Männer, die sie kannte.

Nach und nach fielen Tanja Dinge auf, die am Telefon unbemerkt geblieben waren. Sascha bestellte sich einen Salat und schüttete, ohne zu probieren, das halbe Salzfass drüber. Er mache das immer so, sagte er auf Tanjas fragenden Blick. Ihr fiel auf, dass er zwar zuzuhören schien, aber er bewegte dabei permanent die Finger, einen nach dem anderen, hin und zurück, immer wieder. »Ich wusste das damals nicht, aber das macht er, weil er ständig alles um sich herum zählt.« Kacheln, Fliesen, Bäume, Menschen: Egal, ob er isst, telefoniert oder der Frau seines Herzens gegenüber sitzt – Sascha zählt. Wenn er damit fertig ist, macht er Zählspiele im Kopf. Er denkt sich eine Zahl aus, zum Beispiel die 33, und geht an den einzelnen Fingern herunter, bis er vier Mal von 33 heruntergezählt hat und das Spiel am rechten kleinen Finger enden soll.

Macke oder Manie? Der Grat ist schmal, und wen kümmern seltsame Fingerspleens, wenn man den scheinbar idealen Mann getroffen hat. Aufmerksam, einfühlsam, zuvorkommend. Kein Macho-Gehabe, wie sie es von ihrem Ex-Freund kannte. Wie kann man so ein Glück haben, dachte Tanja damals. Nur manchmal, wenn sie ihn genau beobachtete, beschlich sie der Verdacht, dass unter der Oberfläche mehr war. Hatte seine Empathie nicht etwas leicht Antrainiertes? Doch in den ersten verliebten Wochen schob sie diese Gedanken beiseite. Sie wollte genießen, nach der schweren Zeit mit dem Ex-Freund endlich glücklich sein. Sie sollte erst viel später erfahren, wie richtig sie gelegen hatte.

»Das, was mir so gut an ihm gefallen hat, das stammt alles von Oma und Opa«, sagt Tanja.

»Mein Großvater war mein Vorbild, von ihm habe ich alles über Erziehung gelernt«, sagt Sascha.

»Auch seine Oma hat ihm einiges beigebracht«, sagt Tanja.

»Man gibt Leuten die Hand, wenn man sie begrüßt«, sagt Sascha. »Man schaut Leuten in die Augen, wenn man mit ihnen spricht.«

Aber Sascha hat seine Tricks dabei. »Vorm Händeschütteln putze ich einfach meine Hand ab und hinterher mach ich das auch«, sagt Sascha.

»Da ist er blitzschnell, das fällt gar nicht auf«, sagt Tanja.

»Und ich weiß, dass ich im Gespräch immer mal wieder mit dem Blick abschweifen darf«, sagt Sascha. »Das tun andere Leute ja auch.« Er setzt sich auch gern seitlich, wenn er sich unterhalten muss. Schaut den Leuten auf den Nasenrücken. »Kriegt ja keiner mit.«

Auch Tanja bemerkte zunächst nicht, wie Sascha sich geschickt durch die Klippen des sozialen Miteinanders schiffte. Sie trafen sich in den ersten Wochen, so oft es nur ging, redeten über alles, was ihnen wichtig war im Leben. Als Tanja ihn einmal besuchte, erzählte Sascha ihr ausführlich von seiner großen Liebe, dem 1. FC Köln. Lachend meinte sie zur Verabschiedung: »Ach, du und dein Fußball – vielleicht reden wir beim nächsten Treffen auch mal über was anderes.«

Sie fuhr nach Hause, glücklich, verliebt, schrieb ihm daheim, dass sie gut angekommen sei. Es kam keine Antwort. Sie schrieb am nächsten Tag wieder. Keine Antwort. Sie versuchte ihn anzurufen. Keine Antwort. Sie schickte ihm eine Nachricht: »Was hab ich falsch gemacht?« Keine Antwort. Sie machte sich Sorgen, klingelte ihn im Minutentakt an, schickte ihm eine Nachricht nach der anderen.

Nach einer Woche hatte sie genug. Sie wusste, dass er Nachtschicht in der Tankstelle hatte. Sie packte ihre Tochter ins Auto und fuhr los, mit dem letzten Rest Benzin, das sie sich von ihrem mageren Ausbildungsgehalt leisten konnte. Wie sie zurückkommen sollte, wusste sie nicht, aber sie fuhr die dreihundert Kilometer mit nur einem Ziel: endlich wissen, was los ist. Um ein Uhr nachts stand sie vor ihm, mit Sack und Pack. Doch die Aussprache musste warten, Sascha gab ihr den Wohnungsschlüssel, damit sie sich erstmal schlafen legen konnten.

Am nächsten Morgen überreichte er ihr eine Tankstellenrose und einen Teddy, auf dem stand: Ich liebe dich. Und Tanja erfuhr endlich, warum sie eine Woche lang gelitten hatte. Es war ihr Spruch mit dem Fußball gewesen. »Der hat mich verletzt«, sagte Sascha.

»Ich dachte nur: Ist das jetzt sein Ernst?«, sagt Tanja. Es war sein Ernst.

»Ich habe mein Gesetz«, sagt Sascha. »Dann wäre es eben vorbeigewesen, das hätte mir in dem Moment auch nicht leidgetan.«

Sie wollte diesem Kauz eine Chance geben, weil sie weiterhin das Besondere in ihm sah. »Aber ich hatte seitdem gigantische Angst, dass es wieder passiert.«

Vielleicht wäre die Beziehung tatsächlich gescheitert, vielleicht gäbe es diese Liebe heute nicht mehr. Wäre nicht eine Woche später etwas passiert, das beide in ihren Grundfesten erschütterte. Etwas, das sie für immer zusammenschweißen sollte. Das ihnen zeigte, hier geht es um Leben und Tod.

Folge 1: Wenn dir dein Kind ein Rätsel ist
Folge 2: »Macke oder Manie? Egal, dieser Mann ist mein Retter«
Folge 3: Tanja und Sascha: Die Geschichte einer besonderen Beziehung
Folge 4: »Ich habe ein paar Tabletten zuviel genommen« – Als Autismus für Familie B. zum Albtraum wurde
Folge 5: »Wir sitzen im Wohnzimmer und schicken uns WhatsApp« – Familienalltag mit Autismus
Folge 6: Kämpfen bis zur Selbstaufgabe – Als Tanja nicht mehr konnte und Sascha über sich hinauswuchs
Folge 7: Vierzig Jobs, immer angeeckt - Sascha und das Arbeitsleben
Folge 8: Wir und die anderen – So reagieren Freunde und Nachbarn