Kurz zur Erinnerung:
Tanja und Sascha B. haben vier Kinder: Jennifer, 17, die aus einer früheren Beziehung Tanjas stammt. Sie war vier, als Tanja und Sascha sich kennenlernten, 2013 hat Sascha sie adoptiert. Luis, heute 11, hat Autismus. Mit vier Jahren hatte er die Verdachtsdiagnose auf Autismus erhalten, im Zuge dessen war bei seinem Vater erst ADHS, später Autismus vom Typ Asperger diagnostiziert worden. Auch Luis erhielt kurz vor seiner Einschulung die Diagnose Asperger-Syndrom, er gilt als vom Autismus schwer betroffen. Auch Hannah, 10 Jahre alt, hat Autismus. Mit vier Jahren erhielt sie die Verdachtsdiagnose Asperger, Anfang des Jahres wurde die Testung wiederholt und eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert. (In den vergangenen Jahren stellten amerikanische Autismus-Forscher fest, dass die Unterteilung in frühkindlich, atypisch und Asperger wissenschaftlichen Überprüfungen nicht standhält, daher spricht man in Amerika nur noch von Autismus-Spektrum-Störung verschiedener Schweregrade, was auch in Deutschland allmählich übernommen wird.) James, 6 Jahre alt, ist der nicht geplante Nachzügler. Er kommt im September in die Schule, Erzieher im Kindergarten äußerten den Verdacht auf ADHS. Dieser wurde Anfang des Jahres durch ein Testing bestätigt.
Jennifer
Als Tanja und Sascha B. sich 2005 kennenlernten, befand sich Tanja noch in einer Beziehung mit dem Vater ihrer Tochter Jennifer. Er schlug Jennifer, er bedrohte Tanja mit einem Messer, verfolgte sie mit dem Auto – und Tanja wollte nur eines: raus aus dieser Beziehung. Für sie war Sascha der Retter. Für Jennifer war er zunächst ein fremder Mann, der schon nach vier Monaten zu ihr und ihrer Mutter in ihre kleine Wohnung zog. Der oft aus dem Nichts heraus Tassen oder Handys an die Wand schmiss. Der ausrastete, wenn sie ihr Spielzeug nicht ordentlich wegräumte, der zur Tür herausstürmte und stundenlang verschwunden blieb. Der ihre Mutter anbrüllte, sie zum Weinen brachte. Der, anders als ihr leiblicher Vater, niemals ihr selbst oder ihrer Mutter gegenüber gewalttätig wurde, der ihr aber trotzdem Angst machte. Weil er laut und unberechenbar war. Und sie oft nicht verstand, warum.
Als Jennifer fünf Jahre alt war, kam ihr Halbbruder Luis zur Welt. Schon früh drehte sich alles um ihn, er lernte nicht sprechen, nicht krabbeln, nicht laufen, bereitete seinen Eltern Kopfzerbrechen. Schon vor der ersten Verdachtsdiagnose bekam er den Großteil ihrer Aufmerksamkeit, danach noch mehr.
Autismus beherrschte fortan das Familienleben. Jennifer musste mit anpacken, passte auf die kleine Schwester Hannah auf, wenn Luis mit den Eltern zu Therapien ging. Passte auf Luis und Hannah auf, damit ihre Eltern abends auch mal ausgehen konnten. Wusste, es ging nicht anders, und beschwerte sich nicht. In der Pubertät bekam sie Probleme in der Schule. Bekam schlechte Noten, blieb in der 7. Klasse sitzen. Schaffte es vor lauter Pflichtgefühl ihren Geschwistern gegenüber nicht mehr, ihren eigenen Schulpflichten nachzukommen. Doch die besondere Situation ihrer Familie hat sie auch auf ihren eigenen beruflichen Weg gebracht: Sie möchte ihr Fachabitur im sozialen Bereich machen und danach in der Heilpädagogik arbeiten.
Für ihre Mutter ist Jennifer nicht nur im Alltag eine Stütze, sondern auch emotional. Wenn Sascha schreit, bleibt Tanja stumm, weil sie weiß: Alles andere macht es nur schlimmer. Wenn Luis und Hannah ausflippen, steht Tanja ihnen als Fels zur Seite. Doch wenn Jennifer herumzickt und nervt, darf Tanja genervt zurückschimpfen. »Mit ihr kann ich mich so richtig schön und normal streiten, wie es mit den anderen nicht möglich wäre«, sagt Tanja. »Da können wir uns beide mal ausbrüllen - und das tut gut.«
Luis
Luis hat keine Freunde, sagt seine Mutter, niemand interessiert sich für ihn, und er interessiert sich für niemanden. In der Grundschule besuchte er eine Regelschule mit Integrationshilfe. Doch den Lehrern und Schülern dort fehlte es oft an Verständnis für den kleinen Jungen, der sich abschottete, der sich scheinbar darauf ausruhte, anders zu sein als die anderen. Weil Autismus keine körperliche und auch nicht immer eine geistige Behinderung mit sich bringt, ist es für Außenstehende schwer nachzuvollziehen, dass die Andersartigkeit kein Starrsinn aus purem Trotz ist, keine Gleichgültigkeit aus purer Ignoranz. Seit er 2016 auf eine Förderschule gewechselt ist, wird ihm mehr Empathie entgegengebracht. Nur an Freundschaften hat er weiterhin kein Interesse.
An Computern umso mehr. Am liebsten spielt er Mario Kart, das ist seine Welt. Wenn er in seinem Zimmer vor dem Bildschirm sitzt, sieht man seine Arme wie wild flattern. Er freut sich, er ist aufgeregt, hebt förmlich ab, fühlt sich fröhlich und frei.
Einmal machten sie alle sechs einen Schnee-Spaziergang. Ein Desaster für Sascha und Luis – überall Schnee, Schnee, Schnee. Beide nehmen sensorische Reize besonders intensiv wahr.
Und Luis interessiert sich für Fußball. Natürlich, wie sein Vater, für den 1. FC Köln. Obwohl Lärm und Leute anstrengend sind für Sascha und Luis, genießen sie es, gemeinsam ins Stadion zu fahren. Wenn sie zurück sind, fragt Tanja ihren Sohn: »Wie war’s?« – »Gut«, sagt Luis. Dann fragt sie ihren Mann: »Wie war’s?« – »Gut«, sagt Sascha. »Habt ihr denn auch miteinander geredet?«, fragt sie weiter. »Ich hab ihn mal gefragt, ob alles okay ist, und er hat genickt.«
Außerhalb des Stadions geht es weniger harmonisch zu zwischen den beiden. »Sie sind sich zu ähnlich«, sagt Tanja. Brüllt Sascha herum, reagiert Luis mit Überforderung. Luis weigert sich zu sprechen, Luis schmeißt den Teller an die Wand, weil ihm das Essen nicht schmeckt, Luis rennt heulend in sein Zimmer, weil Besuch da ist und er überwältigt ist. Und Sascha vermag es nicht, sich in ihn hineinzuversetzen – obwohl es ihm doch oft genug selbst so geht. »Gibt doch gar keinen Grund«, sagt Sascha nüchtern.
Ab und zu besteht Tanja auf Familienzeit. »Luis macht immer nur sein Ding, Sascha macht immer nur sein Ding«, meint sie. Meistens ist das in Ordnung für sie, doch am Wochenende soll die Familie auch mal etwas zusammen machen. Dann gehen alle sechs spazieren, auch wenn es Vater und Sohn Überwindung kostet, besuchen den Opa auf dem Friedhof, stellen eine Kerze auf. Einmal waren sie im Schnee spazieren, das war ein Desaster für Luis und Sascha. »Dieser ewige Schnee, ich hasse den Schnee, überall Schnee …«, beschwerten sich beide im Duett. Schnee unter den Füßen, von vorne, von oben: eine Qual für viele Menschen mit Autismus, die sensorische Reize überdeutlich wahrnehmen.
Ebenso wie sein Vater mag Luis auch keinen Körperkontakt. Manchmal lässt Luis es zu, wenn die Mutter ihn in den Arm nehmen will, manchmal kommt er selbst, wenn er Aufmerksamkeit möchte, aber nicht sprechen will, hält seinen Kopf ganz nah an ihren und sagt: »Mhhmm.« »Hallo, hier bin ich«, heißt das. Manchmal streichelt er dann Tanjas Nase mit seiner. »Hallo, ich mag dich«, heißt das - vielleicht.
Weil Luis nicht gerne redet, hat die Familie einen neuen Weg gefunden, sich auszutauschen: über WhatsApp. Tanja sitzt in der einen Ecke des Wohnzimmers, Luis ein paar Meter weiter in der anderen. Auf einmal kommt er rüber, stellt sich neben Tanja und schaukelt mit dem Oberkörper hin und her. Eine Viertelstunde lang. Bis Luis fragt: »Hast du meine Nachricht nicht gelesen?« Tanja schaut auf ihr Handy und sieht eine WhatsApp: »Darf ich das neue Videogame spielen?«
»Bei Jennifer rege ich mich auf, wenn sie oben in ihrem Zimmer sitzt und mir aus Faulheit schreibt«, meint Tanja. Wenn Luis das tut, freut sie sich. »Er kann sich schriftlich besser öffnen, er traut sich mehr, als wenn er mit mir sprechen muss. So sitzen wir zusammen im Wohnzimmer und schicken uns WhatsApp.«
Hannah
Die engste Geschwisterbindung hat Luis zu Hannah. Nicht, weil sie dieselben Interessen teilen, sondern dieselben Probleme. Hannah zeigt wie auch er die Symptome des Asperger-Syndroms (obwohl bei ihr, wie heute üblich, nur noch die allgemeine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert wurde). Die ersten zwei Jahre auf einer Regelgrundschule stand ihr eine Integrationskraft zur Seite, die Klassen 3 und 4 schaffte sie alleine. Nun wechselt sie dieses Jahr auf die Realschule, unterstützt wiederum durch einen Integrationshelfer. In der Schule haben beide Geschwister mit Mobbing zu kämpfen, ihre Freizeit ist gefüllt mit Therapien. Während Luis genau weiß, was Autismus ist, warum er all diese Therapien besuchen muss, hat Hannah noch keine Akzeptanz und kein Verständnis gefunden für das, was anders ist an ihrem Leben als an dem der anderen Kinder. »Warum muss ich da schon wieder hin, was hab ich falsch gemacht?«, fragt sie jeden Tag. Luis dagegen ist selbstbewusst. Er weiß, dass er Autismus hat, er weiß, warum er ist, wie er ist, er weiß, dass er gut ist, wie er ist. Und er hilft Hannah, das auch zu verstehen.
Doch auch Hannah ist für Luis eine Hilfe, indem sie ihn anspornt. Hannahs Autismus ist weniger ausgeprägt als der ihres Bruders. Während Luis noch robbte, fing seine zwei Jahre jüngere Schwester an zu laufen. Für Luis war das die größte Motivation, laufen zu lernen. Jahrelang hatte er sich geweigert – doch mit knapp drei Jahren lief er auf einmal seiner kleinen Schwester hinterher.
Autismus ist bei Mädchen oft schwieriger zu diagnostizieren als bei Jungen. Weil Mädchen sich besser ihrer Umgebung anpassen, bleiben ihre autistischen Tendenzen oft über Jahre unbemerkt – bis eine Kleinigkeit die Eltern aufhorchen lässt. Bei Hannah war es die Sache mit der Puppe: Alle Mädchen in Hannahs Kindergarten spielten mit Puppen. Also wollte auch Hannah eine Puppe, bekam sie und wusste dann nicht, was sie mit ihr anfangen sollte. »Mama, was soll ich damit machen?« – »Gib ihr doch einen Namen.« – »Mama, welchen Namen soll ich der Puppe geben?« – »Nenn sie doch Anna, das wäre doch hübsch.« Am Tag darauf fragte Tanja: »Wie geht es Anna?« – »Wer ist Anna?«, fragte Hannah zurück. »Der Name einer Puppe war für sie einfach nicht wichtig genug, um ihn sich zu merken«, meint Tanja. Und auf einmal wusste sie: Auch Hannah ist ein besonderes Kind.
Aber anders als Luis, auch das merkte Tanja, will sie sein wie die anderen. Sie legt Wert auf Verabredungen mit Freundinnen. Wenn jedoch eine Freundin zu Besuch kommt, weiß sie nicht, wie sie mit ihr umgehen soll. Zwei Stunden lang sitzt sie dann mit ihrer besten Freundin auf dem Sofa, bis Hannah sich warmgelaufen hat, bis sie es schafft, sich der Freundin zu nähern, einen Plan zu machen, zu überlegen: Was spielen wir jetzt? Einfach rausgehen, einfach loslegen, einfach spielen – geht nicht.
James
Das Nesthäkchen. Der Wirbelwind. Das Äffchen. Für James, den Jüngsten, hat seine Familie viele Namen. »Er ist komplett anders als alle anderen«, sagt Tanja. James ist quirlig, lebendig, man merkt, wenn er da ist. So wuselig und wild ist James. So schlecht kann er sich konzentrieren. James ist anders als seine Geschwister – aber auch nicht ganz wie die anderen Kinder. Im Kindergarten merkte man das schnell und ein ausführlicher Test brachte kürzlich die Gewissheit: James hat ADHS. Wie Autismus ist auch ADHS durch erbliche Faktoren bedingt. Sascha hat beides. Doppeldiagnosen treten mit einer Wahrscheinlichkeit von bis zu 30 Prozent recht häufig auf. Bei einem Elternteil mit Autismus liegt das Risiko für die Kinder, ebenfalls von Autismus betroffen zu sein, bei 20 bis 30 Prozent.
Autistische Züge sind bei James jedoch keine vorhanden, im Gegenteil. Sich an seinen Computer verkriechen? Andere auf Armlänge Abstand halten, wie es Sascha und Luis gerne tun? Nicht mit James. Er will Körperkontakt, jede Menge. Auch mit Papa, dem das eigentlich alles viel zu viel ist. Aber bei James ist es dann irgendwie doch okay.
Wenn James Nähe sucht, ist er heftig, ungestüm, energisch. Und trotzdem: »Der einzige, bei dem ich körperliche Nähe gerne zulasse, ist James«, sagt Sascha. Er glaubt, weil der per Kaiserschnitt auf die Welt kam und ihm direkt nach der Geburt auf den Bauch gelegt wurde. Tanja hat eine andere Erklärung: »James ist so unbefangen«, meint sie. Wenn Luis oder Hannah Körperkontakt wollen, wirken sie unsicher und unnatürlich, wissen nicht so recht, wie sie es anstellen sollen. Für Sascha, der dieselben Probleme hat, macht es das noch schwerer. Wenn James Körperkontakt will, nimmt er ihn sich einfach. Lässt dem anderen gar keine Chance, ihn abzuwimmeln. »James hat nie darauf geachtet, ob Papa das gerade will oder nicht«, sagt Tanja. Und darum wollte Papa dann irgendwann.
James ist auch der einzige, der keine Angst hat, wenn Sascha wieder einmal herumbrüllt. »Ach, der Papa wieder«, sagt er bloß. Er hat Sascha geduldiger werden lassen, meint Tanja. Und davon profitieren auch die Geschwister. »Ein viertes Kind war nicht geplant«, sagt sie. »Am Anfang dachte ich: oje, oje.« Heute denkt sie: Es sollte so sein. »Wir alle haben James gebraucht.«
Vier Kinder, zwei mit Autismus, eines mit ADHS. Ein Ehemann mit Autismus und ADHS. Und mittendrin Tanja, die von allen gebraucht wird und manchmal selbst Hilfe brauchen würde. Die immer weitergemacht hat – bis es auf einmal nicht mehr ging.
Folge 1: Wenn dir dein Kind ein Rätsel ist
Folge 2: »Macke oder Manie? Egal, dieser Mann ist mein Retter«
Folge 3: Tanja und Sascha: Die Geschichte einer besonderen Beziehung
Folge 4: »Ich habe ein paar Tabletten zuviel genommen« – Als Autismus für Familie B. zum Albtraum wurde
Folge 5: »Wir sitzen im Wohnzimmer und schicken uns WhatsApp« – Familienalltag mit Autismus
Folge 6: Kämpfen bis zur Selbstaufgabe – Als Tanja nicht mehr konnte und Sascha über sich hinauswuchs
Folge 7: Vierzig Jobs, immer angeeckt - Sascha und das Arbeitsleben
Folge 8: Wir und die anderen – So reagieren Freunde und Nachbarn