Man findet es beschrieben in der Literatur. In den Memoiren von Cao Guanlong, dem Sohn eines Großgrundbesitzers aus Shanghai, zum Beispiel, Lange Schatten heißt das Buch auf Deutsch. Da ist der Tisch, der sich in zwei Teile aufklappen lässt. In der Mitte ein Loch. Ein Affe. Drumherum sitzen die Gäste, frisch aus dem Bad geklettert, wo sie sich in mit Jasminblüten versetztem Wasser gewaschen hatten. Schalen und Stäbchen sind aus reinem Silber. Denn: »Nur mit klarem Geist, nur mit purem Silber kann das Herz den Geist des Affen aufnehmen.« Der Affe lebt, wenn der Tisch um seinen Hals herum zugeklappt wird. Er kann atmen, den Kopf aber nicht zurückziehen. Unter der Tischplatte ist er festgebunden.
Eine Kelle mit heißem Öl wird gereicht. Langsam träufelt das Öl auf den Kopf des Affen, so lassen sich die Haare lösen, der Schädel freilegen. Dann ein silberner Hammer. Der Schlag auf den Schädel darf weder zu sanft noch zu heftig ausfallen. Ist der Schädel aufgebrochen, entfernt der Meister etwaige Splitter mit einer silbernen Pinzette. Da liegt sie frei: die »weiße Jade«, das pulsierende Hirn. Dann eine delikate Aufgabe: Die Hirnhaut muss abgezogen werden. Das Gericht ist ruiniert, wenn dabei aus Versehen das Hirn beschädigt wird. Das »himmlische Sekret« darf nicht auslaufen, jetzt noch nicht.
»An dem Punkt ist der Affe noch bei Bewusstsein«, schreibt Cao Guanlong. »Seine glitzernden Augen blicken von Gast zu Gast. Diese dagegen haben die Augen in Meditation geschlossen und warten auf den heiligsten Moment.« Das »Brechen der Jade«. Die höchste Ehre, die für gewöhnlich dem ältesten Gast zufiel. »Ein winziges Löffelchen nur, nicht größer als eine Erdnussschale, allerdings mit einem Stil doppelt so lange wie normal, ein leichter Schlag – und das Hirn sickert heraus.« Das Mahl beginnt. Noch immer lebt der Affe.
Jeder, der auch nur entfernt mit China zu tun hat, kennt die Geschichte vom Affen, dem bei lebendigem Leibe das Hirn ausgelöffelt wird. Seit Jahrzehnten wird sie in Reportagen und in Reiseführern kolportiert. Ich stolperte darüber erstmals 1986, als ich zum Studium nach China aufbrach, im Lonely Planet, der Bibel aller Chinareisenden, wo sie zusammen referiert wurde mit dem ähnlich legendären Rezept der »Drei Quietscher«: in Sojasoße getunkte lebende Mäusebabys. Es ist eine beliebte Anekdote, mit der sich Ausländer auf Abendgesellschaften in ganz Asien einen wohligen Grusel verschaffen. Meist zappelt und schreit der Affe in diesen Geschichten, Blut und Hirnflüssigkeit spritzen. Variationen des Schauspiels finden sich ebenso in billigen italienischen Horrorschockern (Il paese del sesso selvaggio, 1972) wie im zweiten Indiana-Jones-Film (Tempel des Todes, 1984, hier wird das Hirn allerdings schon ausgelöst und eisgekühlt als Dessert serviert). Im Internet kursieren Petitionen gegen die Praxis (»China erlaubt den Verzehr von Affenhirn, während der Affe noch lebt!«).
Abgesehen davon, dass China das natürlich nicht erlaubt und dass die chinesischen Behörden heute selbst gegen den Verzehr von toten Affen vorgehen, ist das Interessante an der Geschichte: Es gibt nicht einen einzigen sicheren Beleg dafür, dass sie wahr wäre. Beim Sichten der zeitgenössischen Berichte darüber fielen dem Blogger D.E. Franks (maxent.org) schon vor mehr als zehn Jahren zwei Dinge auf: Die anekdotischen Belege sind in all ihrer Vielfalt nach eben jenem Muster gestrickt, nach dem sich urbane Legenden seit jeher verbreiten: Der Freund meines Freundes hat erzählt. Der Cousin meines Vaters hat gesehen. Der Geschäftspartner meines Kollegen war dabei. Und es sind stets die anderen, die das tun: Die Indonesier wollen den Brauch in Taiwan entdeckt haben. Die Taiwaner sagen, in Hongkong gebe es das. Die Hongkonger sind fest davon überzeugt, dass es sich um eine chinesische Spezialität von jenseits der Grenze handelt. Und die Nordchinesen sagen, man müsse nur in Südchina suchen.
Glauben die Chinesen die Geschichte wirklich selbst? Ich machte eine Umfrage unter Freunden und Bekannten in Peking, und die Antwort kam jedes Mal überraschend prompt und überzeugt. Ein Malerfreund zum Beispiel: »Lebendes Affenhirn? Klar gibt’s das hier.« Eine Pekinger Lehrerin: »Mit dem Loch im Tisch? Sicher. Bei uns werden doch auch Shrimps und Fische lebend gegessen. Gruselig.« Auf mein Zögern und Nachbohren reagierten sie eher überrascht. Prominente Experten waren keine Ausnahme. »Ich bin überzeugt, dass das bei uns gegessen wird«, sagte Wang Xuetai, pensioniertes Mitglied der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften und Autor einer Geschichte von Chinas Esskultur: »Es gibt schließlich nichts, was die Chinesen nicht essen.« Professor Zhao Rongguang aus Hangzhou, ein Essenshistoriker, sieht das genauso: »Klar existiert das.« Aber nicht nur hat keiner der Befragten je den Akt selbst gesehen, es hat auch von den Historikern keiner je einen Beleg dafür in der Hand gehabt. Es gibt keine Fotos, keine Videos oder verlässliche Berichte aus erster Hand, auch nicht in der alten Literatur. »Dass man keine Beweise dafür findet, ist doch natürlich«, findet Professor Zhao. »Das ist ein Geheimnis wie so viele Dinge hier, die tabu oder verboten sind, die aber in irgendwelchen privaten Clubs weiter getrieben werden.«
Manchmal wird auf historische Aufzeichnungen verwiesen, aber auch diese entpuppen sich schnell als Hörensagen: Jede Schachtel, die man öffnet, enthält eine kleinere Schachtel. »Ich habe es nie mit eigenen Augen gesehen«, so leitet etwa Cao Guanlong, der Autor aus Shanghai, seine oben zitierte Schilderung ein. Er verdanke die Details einem »modrigen antiquarischen Rezeptbuch vom Bücherflohmarkt beim Konfuziustempel«. Frühere Autoren hielten das kaum anders. Eine interessante Legende ist die vom General Wu Sangui, der seine Soldaten 1644 in eine Schlacht gegen die Soldaten der untergehenden Ming-Dynastie führte. Angeblich ließ Wu die Soldaten mit einem Hammer die Schädel lebender Affen aufschlagen und dann deren Hirn auslöffeln. Affen gelten als mutig in China, die Soldaten sollten sich also Mut einflößen. Vielleicht wichtiger noch: Weil der Affe im chinesischen Buddhismus als einer der Beschützer der Lehre gilt, galt das Töten von Affen als große Sünde. Die Soldaten waren Buddhisten – der Legende zufolge befahl der General ihnen den Tabubruch mit Kalkül: Sie sollten ihre Bande zum alten Leben kappen, also nichts mehr zu verlieren haben und sich todesmutig gegen den Feind stürzen.
Um klarzustellen: In China wird Affe gegessen. Und Affenhirn.
Guangxi ist Chinas grüne Provinz. Bergiges Land, hier reibt sich der Bauch Chinas an Vietnam. Der Weg zur Grenzstadt Pingxiang führt durch Reisfelder, vorbei an kleinen Flüssen, durch bizarre grün bekappte Karstberge. Die Grenzstadt Pingxiang liegt eingebettet in drei zusammenlaufenden Tälern. »Bekämpft die Drogen«, steht auf großen Bannern. Zoll, Gericht und Stadtverwaltung haben sich große neue Marmorpaläste gebaut. Der Handel mit Vietnam boomt. Noch 1998 war Pingxiang ein vergessenes Nest am Rand des Reiches. Damals reisten hier Reporter der Zeitung Apple Daily aus Hongkong an – und beschrieben ein verstecktes Lokal für Gourmets mit einer besonderen Leidenschaft: »Sie kauen das Hirn, schlucken und fühlen sich großartig, während der Affe noch um sich tritt.« Es ist der einzige Bericht in den Archiven, der ein solches Mahl aus angeblich erster Hand beschreibt. »Es existiert wirklich!«, meldete die Überschrift. Ohne Loch im Tisch allerdings: Auf Fotos sieht man einen Affen auf der Tischplatte liegen – angeblich wurde ihm zuvor Alkohol eingeflößt, um ihn zu betäuben. »Die alte Methode ist heute zu grausam«, schreibt die Zeitung.
Ein Beweis? Die Apple Daily aus Hongkong gilt als Revolverblatt; vielleicht hatten die Reporter dem Chef des Lokals Geld geboten, damit er ihnen das legendäre Gericht inszeniert.
Ortstermin in Pingxiang. Der zentrale Markt, den die Apple-Reporter beschreiben, auf dem sie 1998 noch Affen, Eulen, Chamäleons, Pythonschlangen und Schuppentiere zum Verkauf fanden, ist vor ein paar Jahren umgezogen. Das Exotischste im neuen Markt sind heute die Obststände mit Mangostin, Rambutan, Papayas, frisch aus Vietnam. »Affen?«, wiederholt ungläubig die Verkäuferin hinter den Schweineköpfen. »Die mag hier keiner. Das bringt doch Unglück.«
In den Bergen um Pingxiang lebten noch nie Affen, die meisten Wildtiere wurden damals aus Vietnam importiert, oft geschmuggelt. »Früher wurden solche Sachen schon hier verkauft«, sagt ein Rikschafahrer, der vor dem Markt auf Transporte wartet. »Aber das hat schon vor sechs, sieben Jahren aufgehört. Unser Staat beschützt doch jetzt die wilden Tiere. Außerdem essen solche Sachen doch ohnehin nur die, die es nicht bezahlen müssen. Unsere Beamten halt.«
Meine Begleiterin und ich geben uns als Touristen aus, Feinschmecker auf der Suche nach exotischen Genüssen. Zwei Tage lang winken alle Kellner in den Restaurants ab. »Gibt es nicht.« Misstrauische Blicke. Schließlich treffen wir die Frau eines Kleinspediteurs, der vom Grenzhandel lebt. »Verbotene Tiere? Ich bringe euch dorthin, wo unsere Funktionäre und reichen Geschäftsleute speisen«, sagt sie. Zwei Kilometer vor der Stadt, inmitten der Reisfelder, am Fuß eines steilen Felsens das »Lokal zur Drachenheimat«. Man sitzt am Teich unter einem alten Banyanbaum. Der Mond scheint. Nein, wehrt die Chefin ab: »Wir haben höchstens Wildhuhn und Wildschwein, wenn ihr wollt. Verbotene Dinge servieren wir nicht.« Also Hühnchen für uns. Im Rücken des Restaurants unter der Felswand freistehende Separees: kleine private Räume, in die sich nach und nach Gruppen von Männern mit schwarzen Lederhandtäschchen zurückziehen. Die Fenster lassen sich verdunkeln. Das Studio hinter unserem Tisch trägt über der Tür ein Schild »Haus der Rechtschaffenen«. Wieder und wieder eilt ein junger Kellner mit kostbarem Porzellan zur Tischgesellschaft in dem Häuslein. Einmal fangen wir ihn ab, scherzen, fragen, was denn in der Schüssel da dampfe? Kobra, sagt er stolz: »Eine Suppe aus Kobra und Schildkröte.« Ach ja? Dürfen wir auch wissen, was denn das kostbarste Gericht des Hauses ist? »Schuppentier«, sagt er. »Rot geschmort.«
Die Ameisenfresser sind mittlerweile in ganz Südostasien eine bedrohte Spezies, weil die Nachfrage in China, der illegale Handel mit ihnen so groß ist. Und Affe? Nein, sagt der Kellner, Affe esse in Pingxiang keiner. Das habe er noch nie gehört.
Um klarzustellen: In China wird Affe gegessen. Und Affenhirn. Auch wenn es mittlerweile verboten ist. Ein Grund dafür ist, dass für Chinesen jede Nahrung auch eine medizinische Komponente hat. Wer Affenhirn isst, tut angeblich seinem eigenen Hirn Gutes. Der Staatssender CCTV enthüllte Ende letzten Jahres in einer Reportage, dass Restaurants in einem Berggebiet der Provinz Jiangxi die dort geschützten Rhesusaffen anboten. Für das Hirn verlangten sie umgerechnet etwa 200 Euro pro Kilo. Bloß: Die Restaurantaffen wurden stets geschlachtet. Warum dann hält sich die Legende vom lebenden Affenhirn so hartnäckig und wird Tag für Tag als Tatsache weitererzählt, eine ewige Konstante im Anekdotenkanon über China? Weil sich Europäer und Amerikaner darin gegenseitig über die Andersartigkeit der Chinesen verständigen? Ein fernes Echo jener Propaganda vom Ende des 19. Jahrhunderts, die das unbekannte Volk als grausam und verschlagen zeichnete, die viel beschworene »Gelbe Gefahr«?
Mag sein. Das ist aber höchstens die halbe Antwort. Die andere Hälfte hat mit der Antwort auf die Frage zu tun: Warum eigentlich trauen sich die Chinesen selbst so etwas zu? Obwohl es alle von mir Befragten für grausam und verwerflich halten? Es gab tatsächlich immer jenen experimentellen Teil der chinesischen Küche, für den der Essenshistoriker Zhao Rongguang aus Hangzhou einen eigenen Begriff prägte: »Misshandlungsküche«. Sein Kollege Wang Xuetai aus Peking meint: »In gewisser Weise sind wir eine Nation ohne Gesetz und ohne Himmel.« Den lebenden Fisch, von dem man hinten die Sushischeiben absäbelt, während das Maul vorne in stummem Protest auf- und zuschnappt, den kann man heute vielerorts bestellen. Und es gibt andere bezeugte Geschichten, wie jene 200 Jahre alte von dem Esel, der neben dem Tisch festgebunden wurde. Der Koch nahm dann ein Stück vom Fell ab und legte so das Fleisch frei, überbrühte es mit kochend heißem Wasser, um schließlich die jeweils garen Stellen abzuschneiden und dem Gast auf den Teller zu legen. Das Rezept stammt aus der Stadt Taiyuan in der Provinz Shanxi. Allerdings ist es vor allem deshalb überliefert, weil der Kaiser den Besitzer des Restaurants 1781 prompt enthaupten ließ: »Die Kaiser sahen sich als Himmelssöhne. Als Beschützer der zehntausend Dinge und Lebewesen«, sagt Wang. »Allzu brutale Misshandlungen konnten sie nicht dulden.« In seinem Buch entwickelt Wang die Theorie, wonach Chinas jahrtausendealte Obsession mit feinem und ungewöhnlichem Essen ein Resultat seines seit alters her autoritären Systems sei. »Chinas Gelehrtenbeamte hatten immer Angst vor dem System, sie fühlten sich schwach und ohnmächtig«, sagt Wang: »So lenkten sie all ihren Frust, all ihre Aufmerksamkeit aufs Essen. Unter der ewigen Autokratie konnte das Volk nicht reifen, es blieb unreif wie Kinder. Neugierig wie Kinder – und manchmal grausam wie Kinder.«
Wang Xuetai ist ein merkwürdiger Chinese und ein noch merkwürdigerer Essenshistoriker: Er macht sich nichts aus großer Küche, gibt sich schon mit einer Schüssel Nudeln zufrieden, die Ehefrau kocht ohnehin nur vegetarisch. Chinas Neureichenkultur hat auch in der Küche neue Auswüchse hervorgebracht: mit Gold bestäubte Gerichte; mit Plazenta gefüllte Teigtaschen, frische Muttermilch – und alle möglichen, vom Aussterben bedrohten Tiere. Wang Xuetai beobachtet das so fasziniert wie befremdet: »Früher sorgte das konfuzianische Prinzip des Maßhaltens für eine Balance«, meint er. »Die neue Obsession mit dem Essen ist ein Ausdruck des nackten Materialismus.«
Die überwältigende Mehrzahl der Chinesen ist von solchen Gerichten ebenso abgestoßen wie der durchschnittliche Europäer. Der Staat bestraft den Handel mit Wildtieren mittlerweile härter als früher. Und viele junge Chinesen lassen sich ihren Idealismus nicht nehmen: Sie kämpfen in Vereinen und online für Tierschutz und gegen die »Missbrauchsküche«. Die öffentliche Meinung haben sie auf ihrer Seite. Als die Shenzhener Zeitung Daily Sunshine im Frühjahr ein Dossier über das Verhältnis von Mensch und Tier in China druckte, da war das ein Appell an die Leser: »Lasst Euren Magen nicht zum Tierfriedhof werden.«
Es gibt einen Bewusstseinswandel in China, allerdings ist er noch nicht abgeschlossen, und für viele Tiere kommt er zu spät. Im letzten Jahr entdeckten Passanten im Pekinger Dongdan-Park in einem Baum einen entlaufenen Rhesusaffen. »Einige schlugen vor, man solle ihn fangen und sein Hirn essen«, berichtete die Pekinger Zeitung Global Times. Am Ende gelang es einem Mann, den Affen zu fangen. Der Artikel endete mit dem Satz: »Es ist unklar, wer der Mann war und wohin er das Tier brachte.«
Essen
Das »Drachenheimat«-Restaurant liegt idyllisch zwischen Reisfeldern, Fischteichen und Karsthügeln. Wahlweise sitzt man in Lauben am Ufer des Sees oder in kleinen Studios. »Longli Shanzhuang«
Shuangyong-Straße
Longli-Dorf
Pingxiang
Tel. 0086/771/ 852 93 88
Illustration: Jörn Kaspuhl