Ein neuer Mocca Whirled Whipped Cream Frappuccino? Wenn New Yorker Schlange stehen, um sich aus einem Fenster Pappbecher mit Plastikdeckel anreichen zu lassen, ist das die erste Vermutung: irgendeine neue, abgefahrene Kaffee-Kreation. Doch diesmal stimmt das nicht. Diesmal stehen die Menschen nicht für eine neue Erfindung an, sondern für das so ziemlich älteste und unaufregendste Essen der Welt: Brühe.
New York hat mal wieder einen neuen Food Trend: Back to the roots. Oder genauer: Zurück zu den Knochen. Bone Broth, Suppe aus Knochenmark, ist das neue In-Getränk – beziehungsweise die neue In-Suppe in der Metropole der Lebensmittel-Trendsetter. Im East Village in Manhattan hat im November Brodo eröffnet, eine Suppentheke am Straßenrand. Dahinter steckt der Starkoch Marco Canora, sein Nobelrestaurant Hearth ist direkt nebenan. Er ist einer der Erfinder des Trends – und verzweifelte so am Brühe-Angebot in seiner Stadt, dass er seine eigene verkaufen musste. »Obwohl Brühe in allen möglichen Kulturen gängig ist, ist es richtig schwer, eine gute Quelle zu finden«, sagt er. Ihm geht es nicht nur um den Geschmack, sondern um die Vorzüge für die Gesundheit: »Essen muss mehr können als nur gut schmecken. Das Tolle an einer guten Brühe ist, dass sie nicht nur absolut lecker und befriedigend ist, sondern auch eine lange Liste an Gesundheitsvorteilen hat.«
In der Schlange vor Brodo steht Christine Love. Die 46-Jährige hat gerade Zwillinge bekommen und war schon immer etwas anämisch, sagt sie. Ihre Akkupunktur-Therapeutin hat zu Brühe geraten. »Als ich gehört habe, dass es jetzt Brühe to go gibt, musste ich das sofort ausprobieren«, sagt sie.»Ich wohne nicht gerade in der Nähe, versuche aber so oft herzukommen, wie es geht.« Loves Lieblingsbrühe ist Rind mit Knoblauch-Püree und Chili-Öl. »Sie ist warm und nahrhaft, ich liebe sie einfach.«
Zeit für einen Geschmackstest. Brodo hat gerade drei verschiedene Brühen im Angebot, man kann sie mit verschiedenen Extrazutaten den persönlichen Vorlieben anpassen. Loves Trank hat eine dicke Fettschicht, ist ockergelbbraun, trüb und so zähflüssig, dass man sich fragt, ob sie überhaupt durch das Schlürfloch im Plastikdeckel passt. Passt sie aber. Sie ist ziemlich scharf und gar nicht furchtbar salzig. Kostenpunkt: 5,50 Dollar für einen kleinen Becher. Die beliebteste Brühe, sagt Canoras Mitarbeiterin am New Yorker Fenster, ist derzeit der so genannte Hearth Broth, ausgekochtes Hühnchen, Truthahn und Rind, mit einer Knochenmark-Einlage und Ingwersaft (sechs Dollar). Statt dicker Fettschicht schwimmen auf der Brühe einzelne Fettaugen und in der Brühe kleine gräuliche Mark-Flocken, sie ist heller und leicht grünlich – wahrscheinlich weil sie so viel Ingwer enthält.
Der Klassiker, die Hühnerbrühe, ist salzig und fleischig und schmeckt frischer als ein Brühwürfel-Trank (vier Dollar). Sie ist noch heller als der Hearth Broth, Fett ist nicht sichtbar. Alle drei sind eigentlich ganz lecker, wenn man über die Details nicht nachdenkt: Canora benutzt nur ganze Hühnerskelette, also inklusive Hals und Rücken. Für die Rinderbrühe kocht er fleischige Hals- und Beinknochen und Knorpel von ausschließlich mit Gras gefütterten Kühen aus. Sie blubbern fünf bis sieben Stunden mit Wasser bedeckt vor sich hin. Knochenmark als Extra gibt dem Ganzen noch einen besonderen Kick, schwören die Brodo-Mitarbeiter.
Brühe, gekocht aus Tierknochen, ist ein wichtiger Teil der Paleo-Diät – auch so ein New Yorker Trend. Diese Ernährungsweise, auch Steinzeit-Diät genannt, verzichtet auf alles, was unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler, noch nicht hatten: Auf den Teller kommen vor allem Fleisch, Fisch, Gemüse, Früchte und Nüsse. Verboten sind Zucker, Hülsenfrüchte und Getreide, besonders weißes Mehl. Angeblich ist diese Ernährung die bekömmlichste, unsere Körper seinen evolutionsmäßig darauf eingestellt. Hollywood-Stars wie Jessica Biel und Matthew McConaughey stehen auf Paleo.
Und der Knochensud? Er soll der Verdauung helfen, Gelenke kitten, gegen schlechte Laune oder sogar Depression helfen und Haut und Haare hübscher machen. Manch einer schwärmt sogar, er baue Kollagen auf, also das Protein, das gegen Hautalterung hilft. Manch einer sagt, Brühe mache stark. »Ich kann gar nicht genau sagen, wieso, aber die Brühe fühlt sich gut an, irgendwie besonders«, sagt Love. »Es ist, als würden mein Blut und meine Knochen wohl genährt.« Starkoch Canaro hat seine Ernährung geändert, nachdem er seinen Körper jahrelang mit Alkohol, Nikotin, Koffein, Butterbroten und 80-Stunden-Arbeitswochen ruiniert hat. Brühe, sagt er, »fühlte sich an, als würde sie mich heilen«. Angeblich schwört auch Star-Basketballer Kobe Bryant auf Knochenbrühe. Wissenschaftliche Studien zum Nutzen gibt es noch nicht. Erfahrungstest: Nach einem Brühetrank ist man mäßig satt, fühlt sich nicht viel stärker oder fitter oder blutgenährter als vorher, muss aber ziemlich bald aufs Klo.
Mittags steht jederzeit ein gutes Dutzend Menschen vor dem Fenster von Brodo. Pro Tag kaufen hier Hunderte, im Internet schreiben sie begeisterte Kritiken – und je mehr Sterne die Brühe bei Bewertungsportalen wie Yelp bekommt, desto mehr Leute stehen an. New Yorker und New-York-Touristen kennen das schon mit dem Schlange stehen, schließlich musste man auch auf einen heiß begehrten Cupcake von der Magnolia Bakery lange warten, auch für einen Cronut, die verrückt fettige Mischung aus Croissant und Donut, die vor zwei Jahren auf den Markt kam und die Menschen begeistert, muss man sich einreihen. New York hat in den vergangenen Jahren etliche Lebensmitteltrends hervor gebracht – unter anderem eine Nutella Bar, für die man in Midtown zeitweise stundenlang Schlange stand. Im vergangenen Jahr aßen plötzlich alle New Yorker Grünkohl in Variationen vom Shake bis zu Chips. Davor war der Getreide-Ersatz Quinoa hip. Kokosnuswasser ist auch ein Trend, der in New York begann. Und jedesmal gibt es quasireligiöse Anhänger der neuen Nahrung.
Ansätze, sich über all die Ess-Trends und neue Diäten lustig zu machen, gibt es endlos. Über Brühe nicht, glaubt Canora. »Wenn Brühe morgen keinen einzigen Vorteil für den Körper mehr bringen würde, würden die Leute sie immer noch wollen, weil sie fucking lecker ist. Ich wüsste nicht, wie irgendjemand skeptisch gegenüber Brühe sein könnte.«