Seit Wochen fühle ich mich kränklich. Hals, Nase, Mandeln, Kopf – alles tut so ein bisschen weh. Nicht schlimm, aber andauernd. In meinem Kühlschrank steht dafür zum Glück genau das richtige Mittel: Fichtenspitzensaft. Dafür erntet man im Frühling frische, feine Fichtentriebe, kocht sie aus, gibt Zucker hinzu – und mit dem entstandenen Sirup übersteht man den Herbst, ohne richtig krank zu werden. Ja, daran glaube ich.
Und wer schon mal vor einer Fichte stand, ihre beruhigende Bewegung im Wind gesehen hat, ihren Geruch in der Nase hatte, ihre hellgrünen Triebe gestreichelt hat, der kann dort doch nur Heilungskraft vermuten, oder? Hinzukommt natürlich der liebevolle Akt der Ernte-Arbeit, den meine Mutter und meine Tante vollziehen. Sie kochen ein, füllen ab und beschriften für Kinder und Enkelkinder.
Kann es eine bessere Medizin geben als in Flaschen abgefüllte Fürsorge aus frisch entstandenem grünem Leben, das nur Wind, Sonne und Regen kennt? Meine Ärztin findet: ja, kann es. Noch dazu sieht sie mich mit diesem merkwürdigen Blick an, als wolle sie einschätzen, ob ich einfach nur teilzeit-esoterisch bin oder schon verrückt.
In meiner Familie herrscht die Übereinkunft, dass jeder eine Macke hat
Ich finde das nicht gut, wenn Mediziner keine alternativen Glaubenssätze zulassen. Gott sei Dank komme ich aus einer liberalen Familie. Nicht in dem Sinne, das es keine Übereinkünfte darüber gab, was sich gehört und was nicht oder wie sich Kinder, Frauen und Männer zu verhalten haben. Aber es gab eben die Parallelstruktur zu Sitte und Anständigkeit, eine Art pragmatische Ambiguität, ohne die sich eine Familie von mehr als drei Menschen gar nicht dauerhaft lieb haben kann. In meiner Familie herrscht die Übereinkunft, dass jeder eine Macke hat. Oder wie man bei uns sagte: einen Schuss.
Schüsse waren über alle Altersklassen und unter allen Geschlechtern verteilt, mal eher harmlose Spleens, aber auch potenziell gravierende Charakterschäden. Bloß: Wenn man seine unorthodoxe Seite offenlegt, kann man verlässlich mit ein paar schlechten Witzen und freundlicher Nachsicht rechnen. Aufgewachsen mit dieser Toleranz habe ich abwegige Denkmuster nie groß versteckt. Erst in anderen Familien habe ich das Prinzip kennengelernt, dass sich alle allen Ernstes für normal halten. Ich fand immer, das hat etwas Irres.
Einmal ging es um mein Ohr, ich hatte dort eine knorpelige Stelle entdeckt. Ich war entsetzt. Ich entwickelte Frisuren, die mein rechtes Ohr verbargen, ich legte den Kopf schief, ich drehte ihn bei jedem Gespräch vom Gegenüber weg, setzte mich in der Schule um, im Kino ging nur der Platz ganz rechts in der Gruppe. Beim Fummeln mit Jungs achtete ich penibel darauf, den Zugang zu meinem rechten Ohr zu behindern, auch zu dem Preis, dass ich die Brüste nicht immer schützen konnte. Irgendwann durfte ich zu einem Arzt, der sich die Stelle am Ohr ansehen und womöglich sogar entfernen sollte. Der Arzt diagnostizierte eine Kieme. Wie bei einem Fisch. Bei mir eben nur am rechten Ohr. Könne man entfernen, sei aber unbedenklich. Heute würde man sagen, da hat ein Erwachsener seine Autorität missbraucht, um ein Kind zu verarschen.
Aber für mich waren damit alle Probleme gelöst. Ich mochte das Unter-Wasser-Sein schon immer. Ich schwamm früh, viel und gerne. Jetzt war ja auch klar, warum. Alles passte zusammen, alles ergab Sinn. Ich war nicht komisch oder hässlich, ich war die Nachfahrin eines Fisches, ein Mädchen mit einem Hauch von Urwesen, ein quicklebendiges Fossil, eine Menschenfrau, die den Urknall noch sichtbar an sich trug. Oder schlicht einen Knall hatte. Egal. Ich erzählte das überall herum, und meine Eltern ließen es zu. Natürlich weiß ich heute, dass ich kein halber Fisch bin. Aber manchmal denke ich jetzt, dass ich vielleicht mal eine Fichte war.

