Wie eine geerbte Uhr ihren Träger heilfroh und tieftraurig macht

Sie ist das Schönste und Wertvollste, was unserem Autor von seinem Stiefvater geblieben ist. Sie am Handgelenk tragend, schreibt er ihm einen persönlichen Brief.

Die Uhr des Autors: eine Breitling »Top Time« mit Handaufzug, hergestellt vermutlich in den Sechzigerjahren.

Lieber Herbert,

du könntest überall sein. Das Christentum hat dafür gesorgt, dass ich eher das Gefühl habe, du schaust mir von oben zu, aber vielleicht bist du auch unter mir, neben mir, an allen Orten gleichzeitig, oder Orte spielen für dich gar keine Rolle. Zeit bestimmt nicht, da bin ich mir sicher. Sicher ist Zeit bloß eine kindische Dimension der Lebenden, so etwas wie die Monster unter dem Bett, nur dass sie sich vor der Zeit am meisten am Ende ihres Lebens fürchten. Aber was ist Zeit in Wahrheit: Ist sie ein einziger Punkt und ihr Verstreichen eine Illusion? Ist sie eine Linie, aber eine kreisförmige, sodass es keinen Anfang der Zeit und kein Ende der Zeit gibt? Ist sie doch ein Strich, genauso, wie wir sie hier wahrnehmen, nur dass sie für dich stillsteht? Oder vergeht Zeit für dich immer noch genauso wie für mich? Ist dir manchmal langweilig?

Ich trage am linken Handgelenk deine Uhr, fast jeden Tag, auch jetzt, während ich das schreibe. Du hast immer fest an Gott geglaubt, ich nicht einmal als Kind, und trotzdem bin ich mir sicher, dass ich dir das mit der Uhr am Handgelenk nicht schreiben müsste, weil du es eh weißt. Dass du weg sein könntest, also nicht wo-anders, sondern weg, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich müsste es können, ich denke schließlich, dass das Jenseits erfunden wurde, weil Menschen die Unerklärlichkeit von Leben und Tod nicht ertragen, aber ich kann es nicht.

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Deine Uhr ist von den Dingen, die ich anfassen kann, das Schönste und Wertvollste, was mir von dir geblieben ist. Sie sieht sogar nach dir aus. So nach Ingenieur mit Sinn fürs Geistreiche. Manchmal, besonders in schwierigen Momenten, streiche ich mit der Daumenkuppe über das Glas deiner Uhr. Es kommt mir vor, als nähme ich so Kontakt zu dir auf. Nicht wie mit einem Anruf aus der Ferne, sondern so, dass du sowieso neben mir sitzt und ich sage: Herbert?, und dann drehst du mir das Gesicht zu.

Ein Gegenstand, der die Zeit misst – irdischer geht es nicht.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich dir noch einmal einen Brief schreibe. Aber anders kann ich über deine Uhr nicht schreiben. Meinen letzten Brief an dich, der auch der erste war, habe ich dir ja vor einem halben Jahr auf deiner Beerdigung vorgelesen. Hat er dir gefallen? Hätte ich die Stelle weglassen sollen, wo es darum ging, dass ich die ersten Jahre, na ja: das erste Jahrzehnt ganz schön Schwierigkeiten mit dir hatte? Vielmehr mit deiner Rolle als mit deiner Person, natürlich. Da brechen die Eltern auseinander, und es kommt ein neuer Mann daher, das ist eben nicht zu verkraften. Und meine Mutter, die so vieles durchgehen ließ, wurde durch dich etwas strenger. Übrigens, du hast ja immer wieder gesagt, Erziehen habe eben auch mit Ziehen zu tun, das tue schon mal weh. Kann sein, aber viel mehr erzogen hast du mich durch das, was gar nicht als Erziehung gedacht war: durch deine Persönlichkeit. In Auseinandersetzungen die Argumente sortieren und dann Lösungen suchen, statt gewinnen zu wollen. Unterscheiden zwischen Dingen, die man ändern kann, und Dingen, die man hinnehmen oder hinter sich lassen muss. Zu sich stehen. Apropos stehen: Weißt du noch, wie ich mit dir diskutiert habe, ich sei ja wohl kein Kind mehr, und du sagtest, doch, vor dem Gesetz sei man erst mit 14 Jugendlicher, nicht mit 13, und das habe ich dir nicht geglaubt, also hast du mir in der Gaststätte, in der wir gerade waren, das Schildchen mit der Jugendschutzverordnung gezeigt, aber das hing zu hoch für mich, also hast du mich gehoben, damit ich es lesen konnte, und die Ironie dieses Augenblicks ist mir erst viel später klar geworden. Wie hast du es geschafft, nicht laut zu lachen? Danke, dass du mich immer so ernst genommen hast.

Ich ziehe deine Uhr jeden Morgen und jeden Abend auf, trotzdem geht sie öfter etwas nach. Nicht viel, höchstens eine Minute pro Tag. Ich mag, dass sie unvollkommen ist. Und die Stoppuhr funktioniert nicht. Oder habe ich bloß nicht kapiert, wie man sie bedient? Weil du so ordentlich bist, solche Quittungen aufzubewahren, weiß ich, dass du die Uhr Anfang 2012 hast grundüberholen lassen. Komischer Gedanke, dass du da noch nichts von deiner Krankheit wusstest. Komischer Gedanke auch, dass du die Uhr bekommen hast, als du kaum älter warst, als ich es jetzt bin. Für dreißig Jahre Betriebszugehörigkeit! Gibt es solche Treuegeschenke heute noch? Bin gespannt. Sollte ich beim SZ-Magazin in Rente gehen, hätte ich knapp dreißig Jahre dort gearbeitet. Ein Gegenstand, der die Zeit misst. Die Minuten bis zur S-Bahn, die Stunden bis zur Bescherung mit den Kindern, und dann immer weiter, nächster Tag, nächste Umkreisung des Zifferblatts. Irdischer geht es wirklich nicht. Und ausgerechnet diesen Gegenstand hast du mir aus der Ewigkeit hinterlassen. Ich bin heilfroh, dass ich deine Uhr trage, weil sie mich daran erinnert, dass du gelebt hast. Ich bin tieftraurig, weil sie mich daran erinnert, dass du gestorben bist. Es ist nicht meine Uhr. Ich bin nur der Bote, bis sie jemand trägt, den die Uhr mit dir und dann auch mit mir verbinden kann, wenn er mit der Daumenkuppe drüberstreicht.

Dein Marc