Meine Mutter hatte sieben Fehlgeburten. Auch mich hat es schon einmal gegeben. Ein Baby mit dem Namen Alexandros Stefanidis liegt auf dem Friedhof in Bad Cannstatt. Mein Bruder starb im Alter von drei Tagen. Sie hat nie darüber gesprochen.
Soweit ich mich erinnern kann, habe ich meine Mutter nie weinen sehen. Nur einmal war sie außer sich: Eines Abends kam ich blutverschmiert nach Hause und sie fiel fast in Ohnmacht. »Was ist passiert? Ist das dein Blut? Bist du verletzt?« Ich habe sie noch nie so erlebt. Dabei hatte ich nur einem Skin die Nase gebrochen, weil er mich »Scheiß-Ausländer« und – viel schlimmer – »Hurensohn!« genannt hatte. In der darauffolgenden Rangelei hatte er neben meinem Ehrgefühl auch meine Jacke besudelt. Als ich meiner Mutter die Szene mit einem Gewinnerlächeln nacherzählte, knallte sie mir sofort eine. »Wie geht’s dem anderen Jungen?«, fragte sie. Tja, ich dachte damals, sie wäre stolz auf ihren Sohn, weil er ihre Ehre retten wollte. Von wegen. Sie schickte mich zurück, um nach dem Skin zu schauen und einen Kranken-wagen zu rufen. Was ich dann auch tat. Alle Jahre wieder erzählt sie diese und andere Geschichten meiner Jugend. Oft kann ich mich an Einzelheiten gar nicht mehr erinnern. Sie aber schon. Als ich in der siebten Klasse die Unterschrift meines Vaters gefälscht hatte, um einer Mathearbeit auszuweichen, schämte sich mein Vater und befahl mir, mich bei der Lehrerin zu entschuldigen. Aber es war meine Mutter, die mit mir zur Schule ging und mir vor dem Eingangstor Mut zusprach. Mut, den ich brauchte, um meinen Betrug vor den Mitschülern und der Lehrerin einzugestehen.
Jahre später fiel sie mal vor Glück auf die Knie und fasste mich an den Beinen. So als würde sie meine Füße küssen. Damals hatte ich eine Aufnahmeprüfung in eine private Schule bestanden. Als ich sie so vor mir sah, schämte ich mich, dass ich nicht vor ihr auf die Knie gefallen bin.
Ich trage dieses Foto meiner Mutter immer in meiner Brieftasche. Als es aufgenommen wurde, war sie 16 Jahre alt und hatte gerade meinen Vater kennengelernt. Sieht sie nicht aus wie ein Engel?
Meine Mutter heißt Maria, wurde 1944 in einem griechischen Dorf nahe Thessaloniki geboren und ist 1963 nach Deutschland ausgewandert. Ich wurde 1975 in Karlsruhe geboren, da hatten meine Eltern bereits zwei ältere Söhne und führten seit fünf Jahren ein griechisches Restaurant namens »Der Grieche«. Dieses Restaurant gibt es heute noch. Und immer noch arbeitet meine Mutter in der Küche. Unser Restaurant ist nur drei Tage im Jahr geschlossen. Zwei Tage an Weihnachten und am Neujahrstag. Kein wöchentlicher Ruhetag, kein Betriebsurlaub. Meine Mutter hält nicht viel von Urlaub. Selbst an den freien Weihnachtstagen steht sie in der Küche und kocht fast den ganzen Tag das Festessen. Für sie ist es das Größte, mit ihrer Familie an einem Tisch zu sitzen.
Seit 1990 sitzt an diesem Tisch auch meine kleine Schwester, der zweite Engel unserer Familie. Sie ist nicht die Tochter meiner Mutter, wohl aber die meines Vaters. Die Liste seiner kleinen und großen Sünden ist wahrscheinlich länger als die der Gesprächsnachweise auf der monatlichen Handyrechnung von Paris Hilton. Immer wenn ich in der Zeitung lese, dass in Deutschland jede dritte Ehe geschieden wird, denke ich an meine Mutter. Wie konnte sie das alles ertragen? Sie hatte – bei Gott! – viele Gründe, ihn zu verlassen. Sie hat es aber nie getan. Ohne die aufopferungsvolle Liebe meiner Mutter zu ihren Kindern würde es unsere Familie nicht geben.
Ich bin heute 31 Jahre alt und versuche so zu leben, wie meine Mutter mich erzogen hat. Und mag es auch pathetisch klingen: Ihr Blick ist voller Dankbarkeit, dass es uns gibt. Vielleicht werde ich in meinem Leben nie einen schöneren Blick als diesen betrachten können. Vielleicht ist dieses Gefühl, meiner Mama in die Augen zu sehen, das reinste.
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