Ein Telefonat mit meiner Mutter beginnt meist damit, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme, weil sie schon mehrfach versucht hat, mich zu erreichen. Jetzt rufst du kurz zurück, denke ich, zwischen zwei Terminen. Kurz. Aber kurz heißt meist lang, geht es doch fast immer um ihre große Aufgabe, die Natur zu retten.
Georg, ihr Freund, geht ans Telefon und holt meine Mutter aus dem Garten, sie ist gerade dabei, am Teich die Kaulquappen zu beobachten. Das erzählt sie mir auch: Die Larven der Libellen, die gerade schlüpfen, fressen die Kaulquappen, jetzt muss man sie unbedingt voneinander trennen, ohne dass das Ökogleichgewicht des Teiches zerstört wird. Die Frage ist also, sagt sie, ob man nun alle Kaulquappen fängt und an einen anderen See bringt oder ob es nicht einfacher wäre, die Larven der Libellen auszusetzen. Als ich kurz einwende, dass in jedem beliebigen Tümpel vielleicht auch Kaulquappen oder Libellen leben, sagt sie, das würde sie natürlich zuvor überprüfen. Dementsprechend müssen nun die Teiche in der Umgebung gründlich sondiert werden. Meine Mutter ist einfach gerechter als die Natur. Und das bedeutet einen enormen Aufwand. Dabei hat sie auch einen anstrengenden Beruf. Ihren vierten schon: Sie war Fotomodell, Modedesignerin und Fernsehmoderatorin – jetzt entwirft sie ihren eigenen Schmuck.
Hast du gestern ferngesehen?, fragt sie. Den Bericht über Rindertransporte in Polen? Sie sagt, sie musste weinen, es sei so traurig, dass die Leute noch Fleisch essen. Und wann ich denn endlich mit dem Fleischessen aufhöre?
Um meine Mutter zu verstehen, muss man wissen, dass Tiere für sie auf Platz eins stehen, manchmal, glaube ich, sind sie ihr sogar fast wichtiger als der eigene Sohn. Um also von einer weiteren Geschichte über traumatisierte Hunde oder kranke Eichhörnchen abzulenken, frage ich, wie es denn ihr so geht.
Ganz gut, sagt sie, die Hände verheilen langsam. Die Hände? Verheilen? Sie war zwei Wochen verreist, weil sie ein neues Hobby entdeckt hatte: Schwimmen mit Delfinen. Sie ist nur etwas weit rausgeschwommen, erzählt sie, und tatsächlich, da waren Delfine, aber dann direkt neben ihr: zwei Haie. Sie hat Panik bekommen, erzählt sie, schwimmt auf die Küste zu, und da taucht auch noch ein Hammerhai auf, der zwar ulkig aussieht, aber bedrohlich schnell auf sie zukommt. Im letzten Moment klettert sie über die Klippen voller Seeigel an Land.
So ein Erlebnis kann das Weltbild meiner Mutter nicht erschüttern. Sie hat fast immer eine Theorie, die ihren Traum von einem gerechten und naturnahen Leben stärkt: Weil sie Tiere so sehr liebt, zieht sie die Tiere auch an – und nicht nur die tollen und niedlichen, sondern eben auch die gefährlichen. In Gedanken sehe ich, wie ein Rudel Wölfe aus einem Wald stürmt und das Haus meiner Mutter überfällt, aus Liebe.
Meine Mutter hatte schon immer eine souveräne Art, mit komischen Situationen umzugehen. Ich kann mich noch erinnern, ich war ein Teenager, als sie an einer Ampel ausstieg und dem ungeduldig hupenden Autofahrer hinter uns ein Lied vorsang. Damals war mir das peinlich, inzwischen finde ich es faszinierend. Sie ist eine Positivdenkerin und versucht das auch anderen Menschen beizubringen. Aus mir ist zwar kein Weltverbesserer geworden, aber vielleicht habe ich doch ein wenig von ihr gelernt.
Was sie denn heute noch vorhat, frage ich. Sie hat da von einer Großwildjagd gehört, sagt sie, und überlegt, ob sie dazwischengeht. Also dann: Tschüss! Mami, ich liebe dich. Ich starre noch eine kurze Zeit auf das Telefon: Hat sie wirklich »Großwildjagd« gesagt?
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