Juliette hat im Bad Goldene Schallplatten aufgehängt. Die hat sie sich zusammen mit den anderen DSDS-Kandidaten vor zehn Jahren ersungen. Auf die erste eigene Nummer eins wartet sie bis heute.
Es hat nur drei, vier Schritte lang gedauert. Kaum ist Juliette aus dem unbeleuchteten Teil der Bühne in den Kegel des Scheinwerfers getreten, haben die Ersten sie erkannt. Als sie beim Stern angekommen ist, jenem Zeichen auf dem Boden, das den Kandidaten anzeigt, wo sie stehen müssen, wenn sie der Jury ihr Talent darbieten wollen, klatscht das ganze Publikum. Einzelne, das wird man vier Wochen später in der Fernsehfassung dieser Szene besser erkennen können, lehnen sich zu ihrem Sitznachbarn rüber und flüstern. Vermutlich so etwas wie: »Das ist doch die von Deutschland sucht den Superstar.«
Egal, ob Juliette irgendwo auftaucht oder auch nur ihr Name fällt, die Reaktionen sind immer die gleichen: »Die hätte damals die erste Staffel gewinnen müssen. Die war echt besser«, sagt der eine. Und der andere nickt. Dann wird das Thema gewechselt.
Juliette hat es nie geschafft, das Thema zu wechseln. In zehn Jahren nicht. Dass sie damals hätte gewinnen müssen, oder zumindest können, das lässt ihr keine Ruhe. Sie will immer noch nach ganz oben, auch heute mit 32. Und sie wählt wieder den gleichen Weg: eine Castingshow. Nur dass es diesmal nicht DSDS ist, sondern Das Supertalent, das sie groß rausbringen soll. Ein Format, in dem Menschen auftreten, die sich »das tanzende Fieberthermometer« nennen oder deren Darbietung darin besteht, sich warme Schokolade über den Po gießen zu lassen.
Juliette sitzt in ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg auf ihrer braunen Ledercouch und muss sich erklären. Um sie herum ein Wohnzimmer in einer Mischung aus Reispapier-Leuchten, Teakholz und Räucherstäbchen. Es ist warm und gemütlich, überall brennen Kerzen, Juliettes Hund liegt in seinem Bastkorb und döst. Sie führt ein gutes Leben: Hat hin und wieder Auftritte bei Firmengalas, gibt Gesangsunterricht und komponiert Lieder für andere Künstler. Sie kann von der Musik leben. Warum tut sie sich das noch mal an?
Schon jetzt sieht man ihr den Stress an, den Öffentlichkeit auslöst. Sie ist angespannt, ihre Wangenmuskeln krampfen, sie spricht schnell, knetet an ihren Fingern herum. Wenn all diese Nervositäten sich eine halbe Stunde lang aufgestaut haben, macht Juliette sich eine Zigarette an und atmet den Rauch tief durch. »Mir wurde die Möglichkeit genommen, einen tollen Karrierestart hinzulegen«, sagt sie. »Das will ich nun nachholen.« Natürlich habe sie sich für ihren zweiten Versuch wieder die erfolgreichste Castingshow ausgesucht, mit der besten Jury. Das meint sie nicht ironisch, das meint sie ernst.
Dabei müsste doch gerade sie es besser wissen. Müsste wissen, dass man in Castingshows keine Karriere startet. Weil es gar nicht um Talent geht, sondern um Spektakel. Dass nicht gewinnt, wer gut singt, sondern wer das Publikum anrührt, provoziert, aufsext oder beschämt. Wie sonst hätte Daniel Küblböck, ein Teenager ohne Gesangstalent, aber mit unfreiwilligem Unterhaltungswert, damals so weit kommen können? Er wurde immerhin Dritter, landete nur einen Platz hinter Juliette. Wie sonst hätte Alexander Klaws, ein öder, mäßig begabter Kleinstadtjunge, gegen eine ausgebildete Ballerina, Musicaldarstellerin und Sängerin gewinnen können?
Juliette ist die tragische Figur der ersten Castingshow gewesen. Sie war damals angetreten mit der Idee, es gehe um Leistung. Genau wie die Zuschauer eingeschaltet hatten, um bei der Suche nach einem künstlerischen Talent dabei zu sein. Aber es kam anders. Der Ton im Fernsehen änderte sich gerade. Nach vielen Jahren, in denen Menschen wie Linda de Mol, Marijke Amado und Ulla Kock am Brink durch die Fernsehabende führten, war es nun plötzlich vorbei mit der Freundlichkeit. Sympathie allein trug keinen Zuschauer mehr durch 120 Minuten Fernsehshow. Was alle sehen wollten, waren Formate, in denen den Kandidaten die Würde unter den Füßen weggezogen wurde. Stefan Raab hatte 1999 damit angefangen und Big Brother hatte nachgelegt. Heute sind ständig Durchschnittsbürger im Fernsehen zu sehen, die man auslacht, weil man nicht weiß, wie man sonst mit ihrer Arglosigkeit umgehen soll. Damals war das neu. Und auch ein neues Wort fürs neue TV-Konsumverhalten sprach sich rum: Fremdschämen. Was für ein Spaß.
Gerade in diese Zeit fiel Juliette Schoppmanns Erstkontakt mit dem deutschen Fernsehpublikum. Sie hatte keine Chance. Denn Juliette lieferte sich dem Konzept nicht aus: Sie wahrte immer Haltung, weinte nicht, brach nicht zusammen, gab nichts von sich preis, sondern sang einfach nur jede Woche richtig gut einen bekannten Hit nach. Nach drei Wochen wurde das langweilig. Ganz Deutschland hat etwas aus dieser Sache gelernt: Die einen haben Castingshows aufgegeben. Die anderen schauen sie zynisch an. Und Juliette?
Ihre letzte Hoffnung
Die nimmt sie noch immer ernst. Bis heute nennt sie die Fernsehstudios im Kölner Vorort Ossendorf ehrfürchtig die »heiligen Hallen«. Sie begreift sie als Ort, an dem sie »gemacht wurde« – auch das sagt sie so. Auch daran, wen sie für den großen Erschaffer hält, lässt sie keinen Zweifel: Dieter Bohlen, der sowohl bei DSDS, als auch beim Supertalent in der Jury sitzt. Und das, obwohl sich die beiden damals im Streit getrennt haben, er ihr via Bild-Zeitung vorgeworfen hat, sie sei größenwahnsinnig. Trotzdem ruht auf ihm ihre letzte Hoffnung. Sie haben sich so gut verstanden, er habe ihr immer wichtige Parts gegeben zum Singen, er habe in ihr etwas gesehen, er könne sie formen. Man merkt, dass Juliette sich nicht zum ersten Mal erklärt. Die Argumente für einen neuen Versuch bei Starmacher Dieter Bohlen kommen zu schnell und zu zahlreich. Entschlossen könnte man sie nennen oder verzweifelt. »Ich rüttel’ so lange am Tor seiner Villa in Tötensen, bis er mit mir arbeitet«, sagt sie, nur halb im Scherz. »Ich glaube einfach, dass er einen Plan für mich hat.«
Und auf diesen Plan will sie jetzt zurückgreifen. Weil alles, was sie probiert hat, um im Gespräch zu bleiben, nicht geklappt hat: Sie hat sich für das Männermagazin Maxim ausgezogen, beim Perfekten Promi-Dinner mitgemacht, gründete medienwirksam eine Band mit Kate Hall, der Frau von Deutschlands bekanntestem Tanzlehrer Detlef D! Soost, posierte im Salatblatt-Bikini für PETA und kam in durchsichtigen Kleidern zu Kinopremieren und Shop-eröffnungen. Zuletzt hat sie sogar Videos auf Youtube hochgeladen, auf denen man sie in ihrem Wohnzimmer sitzen sieht, wie sie voller Inbrunst I Have Nothing von Whitney Houston nachsingt. Das Video hat 3370 Klicks. Weniger Aufmerksamkeit geht kaum noch. Das Supertalent hat im Durchschnitt fünf Millionen Zuschauer. Vielleicht ist das schon die ganze Antwort auf die Frage nach dem Warum.
Um Juliette Schoppmann zu verstehen, muss man wissen, dass sie schon immer so funktioniert hat. Wenn sie nicht weiterkommt, ändert sie etwas – zur Not auch an sich selbst – und versucht es aufs Neue. Juliette ist vier Jahre alt, als sie mit Ballett anfängt. Mit acht erfährt sie von den älteren Tanzschülerinnen in der Ballettklasse, dass diese Ballettstange in Stade, an der sie jede Woche trainieren, nur irgendeine Stange in der norddeutschen Provinz ist. Und sie erfährt auch, wo man in Deutschland auf Weltniveau Ballett tanzen lernen kann: bei John Neumeier in Hamburg. Da will sie hin. Ihre Eltern sagen Nein. Aber Juliette sagt: Doch. Sie fängt an, in der Schule zu stören und gibt nur noch freche Antworten. Erst die Kinderpsychologin, zu der die Eltern sie schicken, kriegt raus, was los ist. »Ihr Kind will unbedingt tanzen«, muss sie den Eltern berichten. Als Juliette zehn ist, lassen die Eltern sie ziehen. Ins Ballett-Internat. Als sie 17 ist, sind ihre Fußballen kaputt. Zu viel getanzt. Die Ballettkarriere ist vorbei. Juliette wirft alles um. Schließlich war das nur ein Weg auf die Bühne. Es gibt noch andere.
Lang, bevor sie sich bei DSDS bewirbt, beginnt sie eine Musicalausbildung an der Stella R1 Academy, nimmt Schauspielunterricht und lernt singen. Unter dem Künstlernamen Kim tritt sie in Deutschland auf Messen auf, versucht auf sich aufmerksam zu machen. Aber es passiert nichts. Schließlich nimmt sie eine Rolle im Musical Saturday Night Fever in Köln an, zwei Jahre tanzt sie dort und tanzt sich immer höher. Irgendwann ist sie so eine Art Joker, kann beide weiblichen Hauptrollen spielen und 16 Nebenrollen. Aber: Auf der Straße erkennt sie keiner. Die Songs sind nicht ihre. Den Applaus am Ende muss sie sich teilen. Daraufhin geht sie zum DSDS-Casting und wird Zweite.
Jetzt steht sie wieder auf einer Castingbühne, mitten auf dem Stern, und wartet auf das Urteil der Jury. »Du hast um dein Leben gesungen«, kommentiert Bohlen. Das habe ihm gefallen. Juliette strahlt. Am 15. Dezember steht sie im Finale der Show und könnte das neue Supertalent werden.
Das Paradoxe ist: Ihre Chancen stehen diesmal gar nicht so schlecht. Weil sie nicht mehr nur gut singt und toll tanzt, sondern auch Gefühle auslöst. Den Vorwurf von früher, ein verwöhntes Akademikerkind zu sein, das glaubt, es habe den Ruhm eh verdient, hat sie ausgeräumt durch ihre »Leidensgeschichte«. Immerhin war sie zehn Jahre total am Boden, so zumindest stellt RTL es dar in seinen Einspielern: Von Dieter Bohlen fallen gelassen und vom deutschen Volk gehasst, sei sie nun reumütig zurückgekehrt. Wie passend auch die Titel, die sie singt: »Damit du mich wieder liebst« und »Ich habe nichts mehr« lauten sie übersetzt. Das Publikum mag gefallene Engel, die wählt sie gern zum Sieg. »Manchmal im Leben Scheiße zu fressen ist gar nicht schlecht«, sagt Bohlen noch. Ach was. Juliette nickt nur müde. Sie hat keine Kraft mehr. Sie will nur noch gewinnen.
Bohlens Lieblingsauftritt von Juliette ist der vom Februar 2003 bei DSDS: Sie sang »Big Spender«, trug nur einen silberfarbenen BH unter ihrem Blazer und streckte ihr rechtes Bein senkrecht in die Luft, während sie mit dem linken auf dem Boden stand - in High Heels.
Mit Castinstars kennt Lara Fritzsche sich aus. Im »Zeitmagazin«, wo sie bis vor Kurzem Redakteurin war, lesen sie diese Woche ihre Geschichte über die allererste deutsche Gewinnerin einer Castingsendung: Irmtraud Kampmeier, 84 Jahre alt.
Fotos: Timm Kölln