Helmut Dietl, geboren in Bad Wiessee, aufgewachsen in München-Laim, wohnhaft in München-Schwabing, hat das München der Siebziger- und Achtzigerjahre unsterblich gemacht.
Außer dem Papst ist nur der Kritiker unfehlbar. Was er sagt, stimmt. Manchmal stimmt es auch nicht, aber gesagt ist gesagt beziehungsweise geschrieben. Vom Kritiker. Und deshalb wahr. »Es gibt keine Indizien dafür, dass bei den Dreharbeiten ein Regisseur dabei war, der auf Tempo, auf Pointe oder auch nur auf Anschlüsse geachtet hätte«, erklärte der Kritiker in der Süddeutschen Zeitung ex cathedra. Der Film, er hieß Zettl und kam im Februar 2012 ins Kino, muss den Kritiker fürchterlich ergrimmt haben, sonst hätte er dem Regisseur nicht völliges Versagen vorgeworfen. »Zettl«, so ging die Kritik schon los, ist der »schlechteste Film des Jahres.«
Nach dieser Kritik und vielen ähnlichen sei er mindestens ein Jahr lang beleidigt gewesen, erklärte Helmut Dietl später seinem Gesprächspartner Giovanni di Lorenzo, dem Chefredakteur der Zeit. »Ich kann zum Beispiel bis heute nicht verstehen, warum jemand, dessen Namen ich am liebsten vergessen würde, solche üblen Sachen loslässt in der Süddeutschen.« Im selben Interview erzählte Dietl, dass er inzwischen Krebs hat, und der, dessen Namen er am liebsten vergessen würde, muss sich seither wegen seiner Kritik in Grund und Boden schämen.
Habe ich schon gesagt, dass ich die üblen Sätze geschrieben hatte, die Dietl so beleidigt haben? Und muss ich noch mal sagen, dass Zettl vor allem mein Bild vom Regisseur beleidigt, dem einmaligen, unvergleichlichen Helmut Dietl, der an seinen besten Tagen besser ist als Billy Wilder und Woody Allen zusammen?
Es war enttäuschte Liebe, was sonst? Zum Beispiel finde ich die Orpheus-und-Eurydike-Oper Vom Suchen und Finden der Liebe gerade in seiner Bombastik einen unwahrscheinlich großen Film, also natürlich megaloman, durchgeknallt meinetwegen, furchterregend in seinem Wahn. Es geht doch um die Liebe, nicht wahr?
Aber langsam. Jeder hat seinen Lieblings-Dietl, seine Dietl-Lieblingsszene. Seit Kir Royal fällt jedem der Auftritt des Klebstofffabrikanten Mario Adorf ein, dieses bundesrepublikanischen Wirtschaftswundermonsters, das dem schimmerlosen Reporter mit der ultimativen Drohung kommt: »Ich scheiß dich zu mit meinem Geld.« (Was selbstverständlich funktioniert.)
Ich könnte ganz viele solcher Dietl-Lieblingsszenen nennen. Zum Beispiel wie Anke Engelke (als Anwältin) und Harald Schmidt (als Therapeut) in Vom Suchen und Finden der Liebe nach stattgehabtem außerehelichen Geschlechtsverkehr ihre Visitenkarten austauschen. Oder wie Gudrun Landgrebe in Rossini zu ihren beiden Liebhabern sagt: »Seit ich euch kenne, bin ich verstopft.«
»Woran es liegt, dass der Einzelne sich nicht wohl fühlt, obwohl es uns allen so gut geht?«
Aber das konnte er schon immer: Hundertprozentig perfekt konstruierte Szenen, um sie dann mit einem tödlichen Satz abzuschießen. Der Genauigkeitsfanatiker Dietl zeigt im Ganz normalen Wahnsinn nicht einfach eine Aufnahme im Rundfunk, sondern er zeigt, wie sich die Tontechnikerin die Nägel lackiert und deshalb die Bandspulen nur mit der Handinnenseite drehen kann. Therese Giehse mochte anderswo die größte Mutter Courage der Geschichte gewesen sein – wie sie mit ihrem Zimmerherrn in den Münchner Geschichten im Tierpark nach ihrem Enkel schauen kommt, der jetzt angeblich was mit Tieren macht, ist größte Schauspielkunst. Oder das »Rosen-Resli« Christine Kaufmann als rosenfarbenes Neuroserl im Monaco Franze und auch im Wahnsinn. Oder Erni Singerl, Karl Obermayr. Selbst der sonst unsichtbare Patrick Süskind tritt bei ihm auf.
Und Helmut Fischer natürlich, Dietls staksiges Spiegelbild. Monaco Franze ist der Traum eines jeden Mannes, dass er nämlich als Freibeuter ständig über die sieben Weltmeere segeln könnte und am Ende trotzdem wieder zu Hause aufgenommen wird, wo das »Spatzl« wartet, einem verzeiht und weiter dafür sorgt, dass der ewige Stenz keiner anderen Arbeit als dem breitgefächerten Minnedienst nachgehen muss.
Dietl hat nicht bloß Helmut Fischer als Monaco Franze groß herausgebracht. Harald Schmidt kommt dazu in diese Ruhmeshalle, Götz George, Moritz Bleibtreu, Ruth Drexel. So war das aber immer. Am Anfang war es Towje Kleiner als Maximilian Glanz oder vielmehr als Helmut Dietl, der mit dem Schreiben, den Frauen und dem Leben insgesamt nicht zurechtkommt. Er scheitert so konsequent am Leben, dass daraus die tatsächlich wahnsinnigste Komödie wurde, die sich das Fernsehen bei uns überhaupt leistete. Der ganz normale Wahnsinn, das gab es – völlig gewalt- und polizeikommissarfrei – tatsächlich vor langer, langer Zeit wirklich im deutschen Vorabendprogramm.
Dietls Figuren sprechen ein Kunstbairisch, ein Münchnerisch, das auch für Ausländer noch zu verstehen ist. Dietl schaut den Leuten dabei nicht aufs Maul, sondern lässt sie nach seinem eigenen Mund reden. Das kann er, denn er ist bei aller Hollywood- und Bernd-Eichinger-Erfahrung der münchnerischste Münchner seit Karl Valentin. Er ist aus der Vorstadt Laim nach Schwabing aufgestiegen, und seine Figuren tun es ihm nach oder versuchen es wenigstens. Ständig ringen sie um diesen Aufstieg, und wenn sie es endlich geschafft haben, sind sie doch unglücklich. Sie sind nicht bloß nach Vierteln, sondern nach Straßen genau definiert. In der Kazmairstraße lebt es sich nämlich anders als am Harras, vom Lehel, von Haidhausen ganz zu schweigen. In Kir Royal ist der Aufstieg endlich geschafft, und die Frage, die den Schriftsteller Towje Kleiner umtreibt, stellt sich verschärft: »Woran es liegt, dass der Einzelne sich nicht wohl fühlt, obwohl es uns allen so gut geht?«
Die Vorstudien dafür begann Dietl in den Siebzigern. In diesen Siebzigern, als in Westdeutschland die Arbeitslosigkeit und damit ein neuer Arbeitsexistenzialismus erfunden wurde, kreierte Dietl eine völlig andere Welt. Sie war bevölkert von Schlawinern, Zockern, Strizzis, Tagedieben und anderen Hallodris. Sie hatten kein Geld, aber viel Zeit, sie entwickelten ständig Projekte, die sich alsbald ins Nichts auflösten. Vor allem hatten sie noch ein Ideal: die Frauen, immer wieder die Frauen. Für heutige familientherapeutische Begriffe waren sie unreif, in einer scheinbar immerwährenden Jugend stecken geblieben, notorisch bindungsunfähig, also hinter jedem Rock her.
Aber wenn Mo Schwarz und Towje Kleiner im Ganz normalen Wahnsinn Tango tanzen, dann wird daraus der schönste Film, der je über die Unverträglichkeit von Mann und Frau gedreht worden ist. »So schee war’s überhaupt no nia«, heißt es zu Recht in den Münchner Geschichten.
Die Frage, die sich Adorno zum Glück nie stellte, ob man nämlich nach Auschwitz noch lachen dürfe, beantwortet Dietl mit einem unmissverständlichen Schtonk! Hitler ist plötzlich nicht mehr die dämonische, tiefdeutsch umflorte Feldherrnfigur, die durch eine ungünstige Fügung des Schicksals den Weltkrieg verlor, sondern ein gigantischer Witz. Wenn Götz George als nazigeiler Reporter in der Vorlust auf die Göring-Nichte Christiane Hörbiger den Champagner aus dem Mund den Hals hinunterschwemmt, als wärs ein kleines Pils, zeigt sich nicht nur die kleinliche Knüller-Gier, sondern das Fortleben Hitlers in Unterhosen. Bester Beweis, wie er später dieselbe Christiane Hörbiger mit dem Satz knechtet: »Ich. Wünsche. Keine. Bittere. Orangenmarmelade.«
Und Zettl, ja, gut. Zettl soll ein Berlin-Film sein und ein Zeitungsfilm und ist sich doch nur fremd. Hätte nicht sein müssen. Die üblen Worte hätten vielleicht lieber auch nicht sein sollen.
Am 22. Juni wird der große Münchner Weltmeister Helmut Dietl siebzig. Herzlichen Glückwunsch!
(Fotos: dpa, br)