In Thomas Bernhards Roman Alte Meister sitzt Reger, der übellaunige Kunstkritiker, jeden zweiten Tag im Museum vor seinem Lieblingsgemälde, ab und zu kommt Irrsigler vorbei, der Museumswärter, ein eher stumpfer Kerl. Die beiden verbindet nicht viel – bis auf die Tatsache, dass sie beide im Leben kaum etwas anderes haben als die Kunst in diesen Räumen. Und auch wenn der Autor Bernhard schimpft, die Kunst sei »das Höchste und das Widerwärtigste gleichzeitig«, so ist doch klar: Für manche Menschen ist sie alles.
So sehr, dass sie sich regelrecht den Bildern angleichen, die sie umgeben. Dem kalifornischen Fotografen Andy Freeberg fiel das in der Eremitage in Sankt Petersburg auf: »Die Aufseher dort sind ausschließlich ältere Frauen, ganz anders als in den USA oder in Europa. Frauen, die einfach ihre eigenen Klamotten tragen, irgendwo in der Ecke auf Stühlen hocken – und auf eine merkwürdige Art verwandelt scheinen.« Die gleiche Beobachtung machte er in der Moskauer Tretjakow-Galerie und anderen russischen Museen: Die eine Aufseherin sitzt da wie eine Bäuerin auf dem Renaissance-Gemälde dahinter, die nächste wie eine Ballerina, die gerade Pause macht, die dritte wird mit ihrer blauen Jacke fast zum Teil des Stilllebens, auf das sie aufpasst.
Im Vorbeigehen könnte man denken, sie sitzen da mit müdem Blick, matt und abgeschaltet. Aber sie alle lieben ihre Arbeit. Erst nach und nach wurde Freeberg klar, was für Frauen das sind: »Viele hatten vorher gute Jobs und sind jetzt in Rente, da gabs eine Zahnärztin, eine Ökonomin, eine Tänzerin. Die sind aufrichtig stolz auf ihre Arbeit – und auf die Kulturschätze, die sie hüten. Sie empfinden das als patriotische Aufgabe.
Eine von ihnen kommt sogar an ihrem einen freien Tag in der Woche ins Museum, um sich vor ein bestimmtes Gemälde zu setzen, weil es sie an ihre Kindheit erinnert. Ein Bild als Ersatzheimat, das kennt jeder, der sich nach einem Umzug schon mal Fotos von Zuhause an den Kühlschrank gehängt hat, das kennen alle, die Familienbilder im Geldbeutel bei sich tragen, das kennt auch Reger, Thomas Bernhards grantiger Kunstkritiker, der sich beim Anblick von Tintorettos Weißbärtigem Mann fühlt wie in einem Haus, in dem er schon sein Leben lang wohnt.
Aber auch wenn man Kunst liebt, können zehn Stunden täglich im Museum eintönig werden. Sollte man meinen. Stimmt aber offenbar nicht. Freeberg erzählt von einer Aufseherin, die seit zehn Jahren in der Eremitage sitzt und sagt, es fühle sich an, als sei es erst eine Woche. Die Frau pendelt jeden Tag drei Stunden zum Museum und zurück. »Sie meinte mit einem Lächeln: Was soll ich denn sonst machen? Ich kann mich auf eine Parkbank hocken und wie tausend andere Alte über meine Wehwehchen jammern. Aber da hab ich es doch hier im Museum hundert Mal besser.«
Andy Freeberg