Löwen weinen nicht

Der TSV 1860 München wird 150 Jahre alt. Seit gefühlten 100 Jahren versinkt er im Chaos und verliert immer, wenn es wichtig wird. Warum bleibt man so einem Verein treu? Bekenntnisse eines Trotzdem-Fans

(Foto: Löwe auf der Mütze, Schal um den Hals, die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Unser Autor mit typischem Löwenblick, hier im Stadion an der Grünwalder Straße.)

Mit sechs bekam ich ein FC-Bayern-Trikot, ein rotes, mit weißem Kragen und Magirus-Deutz-Aufschrift, und ich zog es gern an. Mit einem Trikot kann alles beginnen, das Fansein, das Glück und das Leid, und wenn ich Bayern-Fan geworden wäre, mein Verein wäre seit damals 15-mal Deutscher Meister, neunmal Pokalsieger und einmal Champions-League-Sieger geworden.

Ich wurde aber Fan des TSV München von 1860, der »Löwen«, der »Sechziger«, und wir wurden, seit ich »wir« sage, nicht ein einziges Mal irgendwas. Alle Titel, die mein Verein nach dem Krieg errungen hat, passen bequem auf das 1860-Bierglas in meiner Küche: »Deutscher Pokalsieger 1964«, »Deutscher Meister 1966«. Auf dem Glas steht auch »Europapokalfinalist 1965«, das ist streng genommen zwar kein Titel, weil wir das Endspiel verloren haben, aber das Glas ist ein 0,5-Liter-Glas, da ist eine Menge Platz.

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Die Sechzigerjahre waren die große Zeit der Sechziger, sie waren die bestimmende Mannschaft, Pokalsieger, Meister, Vizemeister, die erste deutsche Mannschaft überhaupt, die in einem Europapokalfinale der Pokalsieger stand. Und was Bayern-Fans gern verdrängen: Deren Groß-Ikonen Franz Beckenbauer und Gerd Müller wollten damals eigentlich lieber zu den Löwen wechseln. Was wäre das für ein Verein geworden! Bei dem einen scheiterte der Wechsel an einer Ohrfeige, bei dem anderen an absurden Regularien, aber dazu später, erst mal ist nur wichtig, dass eine Ära hätte begründet, ein bayerisches Real Madrid aufgebaut werden können. Aber statt Beckenbauer und Müller kam damals das Unglück zu den Löwen und blieb bis heute.

Heute spielen wir in der Zweiten Liga und stehen wieder einmal kurz vor der Insolvenz, der DFB hat uns wegen Lizenz-Verstößen zwei Punkte abgezogen, vor einer Woche hat der Verein als Notmaßnahme alle Gehälter um zehn Prozent gekürzt, wieder werden wir im Winter unsere besten Spieler verkaufen müssen und wieder werden wir nicht aufsteigen. Vor wenigen Wochen trat – nach nur 106 Tagen im Amt – wieder ein Geschäftsführer zurück, der siebte in sechs Jahren. Der SIEBTE! In SECHS Jahren!

Die Namen aller gefeuerten Trainer und Manager, aller gestürzten oder verhafteten Präsidenten oder auch nur aller hoffnungsvollen Talente, die aus Geldnot verkauft wurden, würden nicht einmal auf drei 1860-Biergläser passen. Es geht hier nicht um eine einmalige Pechsträhne, 1860 steckt seit vierzig Jahren in einem Morast aus zähem, hartnäckigem Pech.

Das ist also mein Verein.

April 1984, Bayernliga: 1860 schießt Fürth vor 30 700 Zuschauern mit 6:1 ab. Den Aufstieg schaffen die Sechziger aber nicht.

»Warum ich? Warum 1860?«, frage ich Gunter Gebauer, 66, Professor für Sportphilosophie an der FU Berlin; er weiß, was in Menschen vorgeht, die sich mehr mit Fußball befassen, als sie vielleicht sollten. Wir treffen uns in seinem Büro in Berlin-Dahlem, er lehnt sich zurück und hört mir zu, er lächelt und er nickt, und es fehlt nur noch die Couch. »Sie haben es sich nicht ausgesucht«, sagt er dann. So ist es. Winter 1984/85, der kalte Wind treibt vereinzelte Schneeflocken durch die Luft, während mein Vater und ich dick eingepackt im Grünwalder Stadion von einem Bein aufs andere treten. Ich bin sieben, es ist mein erster Stadionbesuch. Auf den schneebedeckten Rängen stehen die Fans dicht an dicht, manche haben nur blaue Trikots über ihre Pullover gezogen, und ich frage mich, warum sie nicht frieren. Ich bekomme eine Bratwurst mit Ketchup und einen Becher Kinderpunsch, mein Vater trinkt Glühwein und schimpft auf die Spieler auf dem notdürftig geräumten Rasen. Die graubemantelten kopfschüttelnden älteren Männer um uns herum sind sich mit meinem kopfschüttelnden Vater einig, dass die Mannschaft an diesem Tag noch schlechter ist als sonst. Ich schüttle auch den Kopf, nehme einen Schluck Punsch, blase den warmen Atem in meine Handschuhe und bin so stolz, wie ein siebenjähriger Sohn es nur sein kann.

Nach dem Abpfiff werfen wütende Zuschauer Schneebälle auf die Spieler. Auf der Heimfahrt erzählt mein Vater, dass 1860 ein ruhmreicher Verein ist, also: eigentlich. Und dass Rudi Völler und der Wiggerl Kögl alte Sechziger sind, die andere Vereine mit mehr Geld den Löwen weggekauft hätten. Den Nationalspieler Völler kenne ich, und Kögl auch, der spielt beim FC Bayern. Zu Hause fragt meine Mutter, wie es war, und ich sage einen Satz, den ich noch sehr oft sagen werde: »Wir haben verloren.« Wir: Die Löwen und ich.

»Was Sie erlebt haben«, sagt Gunter Gebauer, der Sportphilosoph, »ist ein typischer Initiationsritus: Der Vater lädt den Sohn ein in seine Welt, er hebt ihn dadurch empor. Der Sohn strebt ja immer nach der Anerkennung des oft unnahbaren Vaters und wird versuchen, sich so zu verhalten, dass er den Vater damit für sich gewinnt. Also wird er zum Fan.« Als mein Vater mich emporhob, tat er das nicht sehr hoch: Damals spielte 1860 in der Bayernliga, der Dritten Liga, die Gegner hießen Frohnlach, Vilshofen oder Ampfing, und die Mannschaft war in dieser Saison so schlecht, dass wir beinahe abgestiegen wären in die Vierte Liga.

»Falls es Sie beruhigt«, sagt Gunter Gebauer, »die meisten Fußballfans sind frustriert, unglücklich. Das Unglück bestärkt ihre Bindung an den Verein, es zementiert den Mythos. Die mythische Struktur ist im Fußball typisch, es geht um Verrat, Unrecht, Ungerechtigkeit, Pech, Leiden und natürlich um großartige Leistungen, und alles wird immer weiter gesteigert in den Erzählungen, bis es ins Unermessliche geht: großes Pech, unermessliches Pech. Und die alten Geschichten sind wichtig, je mehr da zu erzählen ist, desto besser.«

Vielleicht sollte man bei 1860 mit den großartigen Leistungen anfangen, und mit jemandem, der damals dabei war. »Schaun’S, das war ich«, sagt Manfred Wagner, 72, und legt – mit zwei Händen, als wäre der Inhalt zerbrechlich – einen Briefumschlag mit Autogrammkarten auf den Tisch des Cafés in München. Auf dem ersten Bild, schwarz-weiß, hält ein junger Mann im 1860-Hemd die Meisterschale im Arm, fast zärtlich. Manfred »Manni« Wagner ist Teil des Mythos, von dem der Verein bis heute zehrt, sein Name ist das zweite Wort im Glaubensbekenntnis des Vereins: Radenkovic, Wagner, Perusic, Konietzka, Grosser, Heiß, Patzke, Brunnenmeier, Reich, Rebele, Luttrop, Küppers, Kohlars, Zeiser, Steiner. Der Kader der Meistermannschaft von 1966. Der Stellenwert dieser Mannschaft ist ungleich größer als bei anderen, bei erfolgreichen Vereinen. Welcher FC-Bayern-Fan kennt auf Anhieb jeden Namen der ersten, der sechsten und der 17. Meistermannschaft? Ihn, den Manni Wagner, kennt jeder 1860-Fan.

Manni Wagner ist nie losgekommen von 1860, er hat nie bei einer anderen Mannschaft gespielt und später, als er im Außendienst bei einem Reifenhersteller arbeitete, wurde er so etwas wie der Denkmalpfleger der Meistermannschaft von 1966: Er hat alle Telefonnummern der damaligen Spieler, er kümmert sich um die jährlichen Treffen und lange Zeit organisierte er die Spiele der 1860-Traditionsmannschaft. Manni Wagner ist ein Meisterlöwe, und also erzählt er von damals, wie sie vor der Rekordkulisse von fast 100.000 Zuschauern im berühmten Londoner Wembley-Stadion das Europapokalfinale spielten – »da waren 11.000 Löwenfans dabei, mit 90 Bussen und 41 Flugzeugen« –, wie sie im Jahr darauf Meister wurden, im Spiel gegen Uwe Seelers HSV, wie sie gegen Real Madrid spielten und gegen den FC Santos: mit Pelé, dem größten Fußballspieler aller Zeiten. Es war ein einziger Rausch.

Dann war plötzlich alles vorbei: 1970 stieg 1860 in die Regionalliga ab, und zwar mit ihm, dem Meisterlöwen Manni Wagner. »Warum, Herr Wagner?« »Weil nichts mehr zusammengepasst hat. Die Führung war unfähig, der Trainer eine Katastrophe, die Mannschaft auch nicht mehr so gut.« Wichtige Spieler haben den Verein da schon verlassen, und für gleichwertigen Ersatz fehlt plötzlich das Geld, das zuvor noch mit beiden Händen ausgegeben wurde. Schon damals droht der finanzielle Kollaps, die Hausbank teilt mit, der Schuldenstand belaufe sich auf 975.000 Mark. Daraufhin rät der Vizepräsident, weitere 25.000 Mark aufzunehmen, weil: »Eine Million merkt man sich leichter.«

Es folgen Querelen im Verein, Rücktritte und der Abstieg, und damit sind die nächsten 40 Jahre fast schon erzählt: Schulden, Querelen, Rücktritte, Abstieg, in wechselnder Reihenfolge. Man muss nicht besonders lange 1860-Fan sein, um das alles mindestens einmal erlebt zu haben – oder, wie ich 2004, sogar alles gleichzeitig: Verhaftung und Rücktritt des Präsidenten Karl-Heinz Wildmoser, Verhaftung und Rücktritt des Geschäftsführers Heinz Wildmoser, Sohn des Präsidenten, ein zerstrittener Verein, massive Schulden, Abstieg aus der Ersten Liga.

Pech, unermessliches, unfassbares Pech

19. Mai 1965: Einmarsch zum Europapokalfinale im Wembley-Stadion. Die Sechziger (links) verlieren 0:2 gegen West Ham United.

Damals, Mitte der Sechzigerjahre, was hätte man anders machen sollen, wie die Weichen stellen? Wagner beugt sich vor. »Schaun’S den FC Bayern an, welche Namen kennt man da aus den Sechzigern und Siebzigern?« Beckenbauer, Hoeneß, Müller, Maier, Rummenigge, Breitner? »Genau. Und wo sind die heute? Beim FC Bayern. Von uns aus der Meistermannschaft wollte die 1860-Führung über Jahrzehnte nicht ein Mal einen Rat, nicht einen. Dabei wäre der Heiß bereit gestanden, der Radi natürlich oder der Grosser. Unsere Herren im Vorstand, die müssten alle erst mal drüben bei den Roten in die Lehre gehen.« Wagner schüttelt den Kopf. Die Roten sind die Bayern, die Blauen die Löwen.

Dann setzt sich der Kabarettist und Volksschauspieler Michael Lerchenberg an einen der Nachbartische. »Stockblau, der Lerchenberg ist stockblau«, flüstert Wagner stolz – »stockblau« bedeutet: ein echter Löwenfan, auf immer und ewig –, und etwas lauter sagt er: »Grüß Gott, Herr Lerchenberg.« Der Schauspieler winkt. »Herr Wagner, ich grüße Sie!«

Ein bisschen später sind Manni, der Meisterlöwe, und ich beim Du, und eine Woche später schickt er mir einen zweiten Stoß Autogrammkarten, diesmal unterschrieben. »Für den Vater«, schreibt er dazu, »weil der doch ein treuer Löwe ist.« Zur traditionellen Unfähigkeit der Führungsriege kommt bei 1860 immer auch noch großes Pech, unermessliches, unfassbares Pech. Wie gesagt: Franz Beckenbauer wäre beinahe zu 1860 gekommen, er ging nur zum FC Bayern, weil er in einem Jugendspiel seines damaligen Vereins SC 1906 München von einem 1860-Spieler geohrfeigt wurde. Und der Wechsel von Gerd Müller zu 1860 scheiterte 1964 an einer lächerlichen Winzigkeit: Die Löwen durften in diesem Jahr keinen weiteren Vertragsspieler verpflichten, und Amateur wollte Müller nicht bleiben, nicht mal für ein Jahr.  »Pech und Unglück allein halten die Liebe zu einem Verein allerdings nicht am Leben«, sagt Gunter Gebauer, der Sportphilosoph, »es müssen schon immer wieder mal Glücksmomente kommen, auch wenn sie noch so kurz sind.«

Vielleicht so? 1977 steigt 1860 in die Erste Bundesliga auf, 1978 wieder ab, 1979 wieder auf und 1981 wieder ab. Glück, Unglück, Glück, Unglück. In der Abstiegssaison 1980/81 tritt für die Löwen ein neuer junger Stürmer an, schießt gegen Düsseldorf gleich drei Tore und wird daraufhin zum ersten Mal vom ZDF in das Aktuelle Sportstudio eingeladen. Rudi Völler. »Der Völler, das ist ein alter Sechziger«, höre ich meinen Vater sagen. Rudi Völler lächelt. »Ja, die Löwen«, sagt er, und schenkt sich in einer Loge im Leverkusener Stadion Kaffee ein, »das war schon eine tolle Zeit.« Eine tolle Zeit? Rudi Völler spielt zwei Jahre bei 1860, im ersten Jahr steigen die Löwen in die Zweite Liga ab, im zweiten steigen sie nicht nur nicht auf, sondern – nach dem Lizenzentzug – sogar ab: in die Bayernliga.

»Na gut, für den Verein natürlich nicht. Aber für mich war das eine sehr wichtige Zeit, ich habe viel gelernt und auf die Zweitligasaison bin ich immer noch stolz.« Völler schoss damals in 38 Spielen 37 Tore. »Das ist bis heute ein Rekord«, sagt er, »bis heute.« Aber wie nur konnten wir absteigen, mit einem Rudi Völler? Ein Rudi Völler räuspert sich. »Na ja, der Abstieg war sehr unglücklich. Es ging ja nur um einen Punkt.« Großes Pech, mal wieder. Und woran ist der Wiederaufstieg gescheitert, trotz der 37 Tore eines Rudi Völler? »Da ging es auch nur um einen Punkt, das war tatsächlich noch unglücklicher als der Abstieg.« Unermessliches Pech.

Tatsächlich fallen Völlers Jahre bei 1860 in eine geradezu traumatische Zeit für den Verein: Der Präsident Erich Riedl, CSU-Bundestags- abgeordneter, verspricht 1979 nach dem Aufstieg, den verhassten FC Bayern auf immer und ewig zu überholen, und gibt dafür eine Menge Geld aus. Geld, das der Verein nicht hat. Unter anderem kauft er dem FC Bayern einen Spieler weg: Jupp Kapellmann, und versucht, Gerd Müller zu 1860 zu lotsen, vergeblich. Bald verbietet der DFB dem inzwischen mit fast vier Millionen Mark verschuldeten Verein, neue Spieler zu kaufen. Riedl, ganz gewiefter Politiker, geht neue Wege: Der Münchner Immobilienmakler Roland Holly, ein berüchtigter Luxussanierer, kauft sich, sozusagen privat, vier Spieler für insgesamt 2,5 Millionen Mark – und verleiht sie dann an die Löwen, zu sechs Prozent Zinsen. Einer von ihnen ist Rudi Völler.

Ein Bild aus besseren Tagen: Manni Wagner 1966, im größten Jahr der Löwen, mit der Meisterschale. Die hatte seither kein 1860-Spieler mehr in der Hand.

Als 1860 später mit Gehaltszahlungen in Rückstand gerät, lädt Holly seine vier Spieler zu sich nach Hause ein und verspricht, im Notfall für ihre Gehälter geradezustehen. »Ja, das war schon seltsam«, sagt Völler, »aber letztlich hat uns der Verein immer bezahlt, auch wenn es mal länger dauerte.« Am Ende aber steht die Katastrophe: 1982 entzieht der DFB 1860 die Lizenz für den bezahlten Fußball, obwohl nach dem Verkauf von Spielern und einer Turnhalle nur mehr eine Million Mark Schulden übrig sind. Das bedeutet: Zwangsabstieg in die Dritte Liga, die Bayernliga. Zum Vergleich: 2005 bekommt Dortmund trotz etwa 166 Millionen Euro Schulden die Lizenz erteilt. Rudi Völler nickt. »Das war damals ein anderer Maßstab. Strenger. Das muss man so sagen.«

Jeder 1860-Fan weiß: Es war Unrecht. Großes, unermessliches Unrecht. Dann muss Völler weiter. »Aber die Löwen, die vergessen mich nie«, sagt er noch, »wenn ich in München bin, begrüßen mich die Taxifahrer immer mit ›einmal Löwe, immer Löwe‹, so heißt es doch, oder?« So heißt es. Rudi Völler lächelt. »Obwohl ich zu anderen Vereinen natürlich mehr Bindung habe, zu Leverkusen natürlich, aber auch zu Bremen, wo ich richtig erfolgreich wurde, und zu Offenbach, wo ich herkomme.« Er überlegt kurz. »Und zu Rom, wo ich meine Frau kennengelernt habe.«

Marseille erwähnt er nicht. Im Herzen von Rudi Völler wird 1860 also immer einen besonderen Platz haben. Den vorletzten. Einmal Löwe, immer Löwe. »Dieser Spruch ist übrigens ein altes Vasallenmotiv«, erklärt Gunter Gebauer, der Sportphilosoph, »der Vasall leistet einen Treueschwur und ist Diener seines Herrn bis an den Rest seines Lebens.« Womit kann ein Verein diese Beziehung gefährden? »Wenn ein Verein seine Persönlichkeit verändert, sein Stadion verkauft, den Namen und die Vereinsfarben ändert, vielleicht um des Kommerzes willen. Dann kann die Liebe flöten gehen. Es darf nicht an die Wurzel gehen.«

Einmal Löwe, immer Löwe

Der TSV München von 1860 verkauft sein Stadion, das »Grünwalder Stadion«, tatsächlich schon 1937 an die Stadt, aus Geldnot natürlich; verlassen wird er es aber erst 1994 unter Präsident Karl-Heinz Wildmoser und Trainer Werner Lorant, als die Löwen nach dem Aufstieg in die Erste Liga ins Olympiastadion ziehen. Dort passen mehr Zuschauer hinein, und mehr Zuschauer heißt: mehr Geld. Für einen erstaunlich großen Teil der Fans bedeutet das: Verrat. Eine Diskussion beginnt, die bis heute anhält und seit dem Bau der Allianz Arena eher noch wütender geführt wird: In welchem Stadion soll 1860 spielen?

»Diese Leute begreife ich nicht«, sagt Münchens Oberbürgermeister Christian Ude, während auf dem Marienplatz unter seinem geöffneten Fenster irgendjemand grell pfeifend gegen irgendetwas demonstriert, »1860 ist wahrscheinlich der einzige Verein weltweit, bei dem es manchen Fans wichtiger ist, wo gespielt wird, als wie gespielt wird.« Ude wurde Anfang der Sechzigerjahre 1860-Fan, wie mein Vater, damals war das noch leichter. Heute steht Ude als Oberbürgermeister im Mittelpunkt der Stadiondebatte – weil er die offizielle Haltung der Stadt vertreten muss, und die lautet: Im Grünwalder Stadion wird nie wieder Erstligafußball gespielt, dafür müsste es nämlich umgebaut werden, und da stehen Baurecht, Emissionsrecht und vieles mehr dagegen. Definitiv und unumstößlich. In 1860-Foren wird Ude deswegen gehasst, eine der milderen Empfehlungen lautet, man solle ihn aus Verein, Stadt und Land entfernen. Ude verdreht die Augen: »Von der rechtlichen Lage mal abgesehen«, sagt er, »1860 kann die Miete kaum bezahlen, wie soll der Verein 50 bis 90 Millionen Euro in den Stadionumbau investieren können?«

Rudi Völler zeigt auf. Aber auch mit Völler, dem wohl besten Stürmer, der je für die Löwen spielte, hatte der Verein wenig Erfolg.

Warum eigentlich steht der Verein finanziell wieder so katastrophal da? Ude saß 13 Jahre im Aufsichtsrat von 1860, er muss das wissen. Ude holt tief Luft. »Weil in der Ära Wildmoser nicht nur im Zusammenhang mit der Allianz Arena Verträge unterschrieben wurden, die 1860 überfordern, Verträge, die nicht hätten unterschrieben werden dürfen und die übrigens nie dem Aufsichtsrat vorgelegt wurden. Der Aufsichtsrat von 1860 ist nach meiner Kenntnis der einflussloseste Aufsichtsrat der deutschen Wirtschaftsgeschichte, er zeichnet sich vor allem durch fehlende Kompetenzen aus.« Das ist 1860 in der Gegenwart: ein Verein, gelähmt und deprimiert, praktisch zahlungsunfähig durch die schier nicht zu bewältigenden Kosten für die Stadionmiete; tief gespalten, weil ein großer Teil der Fans ebenjenes Stadion, das den Verein ruiniert, aus tiefstem Herzen ablehnt. Ein Verein ohne Hoffnung, ein Verein ohne Zuversicht.

»Warum sind Sie noch 1860-Fan, Herr Ude?«
»Das hat weniger mit Erfolg und mehr mit Trotz und Treue zu tun.«
»Warum bin ich noch 1860-Fan, Herr Gebauer? Warum bin ich nicht längst Fan des FC Bayern und werde jedes Jahr Meister?«
»Weil sich Ihre Fangeschichte längst mit Ihrer Lebensgeschichte verbunden hat, das kriegen Sie nicht ohne Weiteres auseinander. Bei Ihnen kommt dazu: Sie haben durch das gemeinsame Fansein mit Ihrem Vater Gefühle geteilt, noch dazu traurige. Das ist etwas sehr Wertvolles. Den Verein zu verlassen käme einem Verrat an Ihrem Vater gleich, einem Verrat an Ihrer Kindheit.«
»Aber warum können andere Menschen einfach so Fan des FC Bayern werden, nur ich nicht?«
»Sehr viele Menschen, die sich für FC- Bayern-Fans halten, wissen gar nicht, ob sie wirkliche Fans sind oder nur Mitläufer, Erfolgsfans. Entscheidend ist, dass man auch bei Misserfolg und bei langjährigem Misserfolg dabeibleibt. Das ist das Kriterium. Ob man zu jemandem hält, in der Familie, unter Freunden, beim Verein, das erweist sich erst in düsteren Zeiten.«

Ich kann mir immerhin ziemlich sicher sein, kein Erfolgsfan zu sein. Manchmal träume ich, in eines dieser wichtigen Spiele, die die Löwen immer verlieren, wegen denen ihnen dann immer dieser eine Punkt fehlt, eingewechselt zu werden und – wie aus dem Nichts! – das entscheidende Tor zum Aufstieg, zur Meisterschaft, zu Champions League zu schießen. Solange ich den Erfolg wenigstens noch träume, bleibe ich blau. Und wenn es noch mal 150 Jahre werden.

Foto: Robert Voit, dpa, Imago