»Aghet war der erste Völkermord in der Geschichte des 20. Jahrhunderts«

Die türkische Regierung weigert sich bis heute, die Massaker an 1,5 Millionen Armeniern als Genozid anzuerkennen. Ein Interview aus dem Jahr 2010 mit dem mittlerweile verstorbenen Kulturwissenschaftler Hermann Goltz.


SZ-Magazin: Herr Goltz, Schriftsteller und Journalisten, die sich zum Völkermord an Armeniern äußerten, wurden in der Türkei angeklagt – wie Orhan Pamuk – oder ermordet – wie der Journalist Hrant Dink. Sie beschäftigen sich seit dreißig Jahren mit dem Thema. Wird man auch als deutscher Wissenschaftler bedroht?
Hermann Goltz: Sie kennen die Radio-Eriwan-Antwort: im Prinzip ja. Wissenschaftler waren nie so gefährdet wie der ermordete armenisch-türkische Journalist Hrant Dink, wie Politiker oder Schriftsteller, deswegen treffen uns nur selten unappetitliche Anwürfe in irgendwelchen obskuren Chatrooms im Internet.

Sie waren wissenschaftlicher Berater für den Dokumentarfilm Aghet, der vor zwei Wochen im deutschen Fernsehen gezeigt wurde. Haben Sie sich vor radikalen Türken gefürchtet?

Ich befürchtete vor allem die üblichen Verhinderungsmaßnahmen türkischer Politiker.

Wie meinen Sie das?

Als ich im Jahr 2005 an der Armenien-Resolution des deutschen Bundestags mitarbeitete, schickte das türkische Parlament Abgeordneten-Gruppen aus allen Fraktionen nach Berlin, die mit einem großen Aufwand von Geld und Zeit jede Fraktion des deutschen Bundestages einzeln »bearbeiteten«. Da ich als Berater der deutschen Seite bei diesen Gesprächen persönlich anwesend war, bin ich Augen- und Ohrenzeuge dieses unglaublichen politischen Drucks geworden, den Ankara auf die deutsche Politik in dieser Sache ausübt.

Sie denken, der Einfluss der türkischen Regierung reicht so weit?
Auf Umwegen gelegentlich, ja. Auch viele in Deutschland lebende Türken denken stramm nationalistisch. Und besuchen Abendveranstaltungen von eingeflogenen türkischen Ideologen, die den Völkermord als Erfindung des Westens darstellen. Türkische Mitbürger haben auch schon deutsche Politiker dazu bewogen, unsere Arbeit zu behindern. Ich baue mit Kollegen von der Universität Halle-Wittenberg ja seit zehn Jahren das Johannes-Lepsius-Archiv in Potsdam wieder auf. Der Theologe Johannes Lepsius hat schon 1896 ein armenisches Hilfswerk gegründet und die erste Dokumentation über den Völkermord geschrieben. Türkische Diplomatie hat versucht, das Lepsius-Haus zu verhindern, und Ministerpräsident Matthias Platzeck unter Druck gesetzt. Der türkische Botschafter hat uns vorgeworfen, wir wollten die Türkei destabilisieren.

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Worum streitet die Türkei?
Die türkische Regierung weigert sich bis heute, die Massaker 1915 und in den folgenden Jahren mit bis zu 1,5 Millionen ermordeten Armeniern als Genozid anzuerkennen. Sie behauptet, die damalige Regierung hätte die Deportation von Armeniern lediglich aus Gründen der Staatsräson, zum Selbstschutz des Staates betrieben. Überfälle von kurdischen Banden auf Armenier seien nicht mit Billigung der Regierung geschehen, der Hungertod vieler Armenier in der Wüste nie billigend in Kauf genommen, Erschießungen seien die Ausnahme gewesen.

Das heißt: Die Türkei gibt Massaker zu, aber bestreitet einen Völkermord?
Ja, eine spitzfindige Unterscheidung, in der auch Tote aufgerechnet werden. Die Türkei spricht von 300 000 Opfern, Armenien von leider realistischen 1,5 Millionen.

Wie sieht ein Historiker die Ereignisse?

Der Deportationsbeschluss von 1915 war in Wirklichkeit ein Mordbefehl. Es wurde auch gesagt, die Leute gleich zu ermorden, wäre barmherziger gewesen, statt sie hin- und herzuschicken, bis sie verdursteten oder erschlagen wurden. »Aghet«, wie die große Katastrophe auf Armenisch genannt wird, war vor dem Holocaust der erste geplante Völkermord in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Anhand dieses Völkermords prägte der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin den Begriff Genozid, der 1948 als Straftatbestand im Völkerrecht eingeführt wurde.

Glaubt der türkische Ministerpräsident Erdogan selbst an seine offizielle Position?
Ich bin sicher, nein. Völkermord verjährt nicht. Würde er anerkannt werden, müsste man auch über Wiedergutmachungsleistungen reden, es gibt türkische Diplomaten, die sogar eine Rückgabe von Immobilien
erwägen.

Sie glauben, der türkische Ministerpräsident sagt die Unwahrheit wegen des Geldes und einiger Immobilien?

Vermutlich. Es gibt allerdings auch viele Menschen in der Türkei, die nicht über die Beweislage informiert sind.

Was ist also mit Erdogan?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass er die Dokumente kennt. Ich denke aber auch, er will sie gar nicht kennen.

Welche Dokumente würden ihn denn überzeugen?
Viele internationale Diplomaten berichteten aus den Gebieten, wo 1915 die Massaker stattfanden, an ihre Botschaften. Diese Berichte sind alle zugänglich und zum Großteil sogar veröffentlicht. Allein die Berichte des Johannes Lepsius, dessen Archiv wir aufbauen, reichen aus, um sich von den Ausmaßen des Verbrechens zu überzeugen. Lepsius hat schon den früheren Völkermord 1894 bis 1896 dokumentiert, als bis zu 300 000 Armenier im Osmanischen Reich ermordet wurden. Diese erste Dokumentation trägt bezeichnenderweise den Titel: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das
christliche Deutschland.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite, was zum Massaker geführt hat und inwieweit auch deutsche Offiziere beteiligt waren.)

Das heißt, die Türkei bzw. das Osmanische Reich machte sich nicht allein schuldig?
Die Konkurrenz zwischen Großbritannien und dem Russischen Reich um die Weltmacht gab dem Sultan Gelegenheit, seine Vernichtungspolitik gegen Minderheiten durchzuziehen. Die zweite Dokumentation des Johannes Lepsius von 1915 wurde von der deutschen Regierung bis nach dem Krieg verboten, man wollte den türkischen Bündnispartner schonen. So wie das heute alle NATO-Partner der Türkei immer noch tun.

Sind die Berichte deswegen relativ unbekannt geblieben?

Ja, sie wurden nur ins Französische übersetzt. Aber Lepsius traf 1915 in Konstantinopel auch den für den Völkermord mitverantwortlichen Kriegsminister Enver Pascha zum Streitgespräch. Dieses Gespräch ging in die Weltliteratur ein: Franz Werfel hat es in seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh verarbeitet.

Dabei hat die Türkei die Verantwortlichen des Genozids doch selbst verurteilt.
Nationalistische Ideologen sprechen von einem Nürnberg-Prozess der Siegermächte im Jahr 1919, was nicht richtig ist, denn türkische Militär- und Zivilgerichte sprachen die Urteile. Man muss wissen: 1918 nach dem Krieg gab es eine Doppelregierung – die alte Osmanische Regierung in Konstantinopel und eine neue unter Atatürk, der erst gegen den Genozid war, sich aber nach dem Krieg mit den Schuldigen des Völkermords verbündete. Die Regierung unter Atatürk hat später sogar einen der Schlächter zum Märtyrer ernannt, der in Konstantinopel von der alten Regierung hingerichtet wurde; seiner Witwe wurde eine Rente aus erbeutetem armenischen Besitz zugesprochen. Enver Pascha, der General und Gesprächspartner von Lepsius, wurde nach dem Krieg ebenfalls zum Tode verurteilt und floh nach Deutschland. Später wurden seine Gebeine nach Istanbul gebracht. In Istanbul gibt es heute ein Enver-Pascha-Denkmal, sogar Schulen wurden nach ihm benannt. Das ist, als ob wir in Deutschland eine Eichmann-Schule hätten.

Warum haben die Generäle den Genozid überhaupt befohlen?

Aus Staatsräson und Habgier. Armenier waren wohlhabende Intellektuelle, Rechtsanwälte, Kaufleute, Handwerker, Ärzte, Bauern. Karl May hat geschrieben: »Die Armenier sind die schlechtesten Kerle der Welt«, Schiller hatte das in seinem Geisterseher so ähnlich gesehen. Deutsche Offiziere, die als Ausbilder in die Türkei kamen, sprachen von den »Juden des Osmanischen Reiches«. Der evangelische Theologe und spätere deutsche Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann nahm 1898 sogar das Wort des Bazillus in den Mund und rechtfertigte Massaker an den Armeniern: »Die Türken haben Recht getan.«

Waren Deutsche auch unmittelbar an den Massakern beteiligt?

Einige. Oberst Graf Wolffskeel von Reichenbach etwa hat in Urfa die türkische Artillerie geleitet, die das armenische Viertel sturmreif geschossen hat. Es gab aber auch wenige deutsche Offiziere, die Deportationen zu verhindern suchten, wie Otto Liman von Sanders.

Haben Türken nicht recht, wenn sie sich deutsche Kritik an ihrer Geschichte verbitten?

Es gibt eine etwas verrückte Äußerung eines türkischen Politikers: Die Deutschen sind die einzigen Völkermörder auf der Welt und suchen verzweifelt nach Kameraden. Das ist natürlich nur Polemik. Adolf Hitler erinnerte ja selbst an die Vernichtung der Armenier, bei einem Treffen mit den Oberkommandierenden auf dem Obersalzberg, am 22. August 1939 – die Geheimrede wurde aber verbotenerweise mitgeschrieben. Es ging um den Überfall auf Polen, Hitler sagte: »Wir müssen mitleidslos wie Dschingis Khan Männer, Frauen, Kinder, Greise der polnischen Rasse vernichten.« Um etwaige Zweifel zu beseitigen, fügte er hinzu: »Wer spricht denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?« Ein interessanter Punkt: Wie kommt Hitler auf die Armenier? Es gab einen deutsch-baltischen Offizier und Diplomaten in seinem Beraterstab, der in Anatolien 1915 versuchte, den Armeniern zu helfen, Erwin von Scheubner-Richter. Er wurde nach dem Ersten Weltkrieg ein wichtiger Berater Hitlers und führte ihn in die Münchner Gesellschaft ein, die ihn mit den nötigen Mitteln für seine politische Karriere ausstattete.

Hitler nahm die Türkei zum Vorbild?

Hitler wusste, einer Siegermacht verzeiht man vieles. Die Weltmächte rückten schon 1923 von ihrem Vorhaben ab, einen armenischen Staat zu schaffen und die Türkei als Verlierermacht deutlich zu verkleinern. Die Türkei blieb Bündnispartner des Westens, bis heute. Deswegen sprechen so wenige Länder vom Völkermord an den Armeniern.

Ein Ausschuss des amerikanischen Außenministeriums hat sich endlich dazu durchgerungen, von Genozid zu sprechen.

Die Armenier jubeln schon, aber das könnte zu früh sein, denn die Entscheidung des Kongresses steht noch aus. Deutschlands offizielle Position in der Resolution des Bundestages vom Juni 2005 ist realistischer: Hier wird auf die gemeinsame Verantwortung der Türkei und Deutschlands verwiesen, da sitzt nicht nur die Türkei auf der Anklagebank. Das Wort Genozid wurde in der Resolution vermieden, aber Ankara hat es dennoch herausgehört, und so war es ja eigentlich auch gemeint: »Deutschland verlangt von uns die Anerkennung des Genozids«, hieß es am Tag darauf in den türkischen Medien.

Gott sei Dank sind die Menschen in der Türkei viel aufgeklärter als
ihre Politiker: Denken sie nur an die großen Demonstrationen nach dem Mord an Hrant Dink durch einen 16-jährigen Fanatiker vor zwei Jahren. Da gingen nicht nur armenischstämmige Türken auf die Straße. Es gibt viele Oppositionelle in der Türkei, die sich für die Anerkennung des Völkermords einsetzen.

("Aghet" ist armenisch und heißt "die große Katastrophe" - die Geschichte der Ermordung Hunderttausender Armenier zwischen 1915 und 1917. Die geschichtlichen Hintergründe zum Genozid in Armenien lesen Sie auf der nächsten Seite)

Hintergrund:

Als Völkermord oder Genozid werden Handlungen bezeichnet, die mit der
Absicht begangen werden, eine ethnische, rassische oder religiöse Gruppe zu zerstören. Am 9. Dezember 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen (UN) die »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes«, unter dem Eindruck der Judenvernichtung durch die Deutschen.

Seitdem ist »Völkermord« ein Straftatbestand. In Deutschland wird das Verbrechen mit lebenslangem Freiheitsentzug bestraft; es gilt zudem das »Weltrechtsprinzip«, das heißt, das Verbrechen kann in Deutschland bestraft werden, ganz gleich, wo es verübt wurde. Die UN-Konvention hatte jahrzehntelang kaum praktische Konsequenzen; erst in den 1990er-Jahren gab es nach den Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und
in Ruanda die ersten Anklagen wegen Völkermordes.

Die Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich zwischen 1915 und 1917 gilt heute als erster Völkermord der Neuzeit, wird aber von der Türkei weiterhin nicht als solcher anerkannt.

Der Genozid an den Armeniern

Januar 1913: Militärputsch der Jungtürken um Enver Pascha, Talat Pascha und Cemal Pascha.
August 1914: Geheimvertrag zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich zu Beginn des Ersten Weltkriegs.
Januar 1915:
Entscheidende Schlacht im Kaukasus, die mit einer Niederlage der türkischen gegen die russischen Streitkräfte endet; die Jungtürken geben den Armeniern im Osmanischen Reich die Mitschuld.
24. April 1915: Verhaftung und Deportation von etwa 250 armenischen Intellektuellen in Konstantinopel; Beginn der systematischen Ermordung.
bis 1917: Insgesamt kommen bis zu 1,5 Millionen Armenier ums Leben; sie werden ermordet oder sterben während der Deportationen.
30. Oktober 1918: Beendigung der Kämpfe zwischen dem Osmanischen Reich und den Alliierten Anfang November 1918: Flucht von Enver Pascha auf einem deutschen Kriegsschiff; vorübergehendes Exil in Potsdam.

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Lars Reichardt, 46, hat selten einen so brutalen Film gesehen wie die Fernsehdokumentation Aghet über den Genozid an den Armeniern.
Die Dokumentation ist in der Mediathek des NDR zu sehen, der Film selber auf youtube.

Fotos: dpa, getty/afp. Illustration: Reinhard Kleist.