Die 80-jährige Ruth Klüger

In den Konzentrationslagern der Deutschen hat die Wiener Jüdin gelernt, dass die Hoffnung feige macht und die Verzweiflung mutig. Das hat ihr später als Germanistin in Amerika geholfen.


SZ-Magazin: Frau Klüger, Sie sehen frisch aus. Geht’s Ihnen gut?

Ruth Klüger: Das macht die kalifornische Winterbräune. Ich gehe morgens schwimmen und sitze ein bisschen in der Sonne. Aber mir geht es tatsächlich weitaus besser als mit 70. Alle Straßen sind kürzer geworden, alle Hügel können bestiegen werden. Wenn ich eine hohe Treppe sehe, schaue ich mich unwillkürlich nach einem Lift um. Doch dann denke ich: Ach, ich kann ja raufgehen. Das konnte ich vor drei Jahren nicht.

Wie kommt es zu dieser Verjüngung?
Ich hatte vor zweieinhalb Jahren eine Herzoperation, von der ich kaum erwartet habe, dass ich sie überlebe. Den Arzt, der mir die Operation empfohlen hat, habe ich später besucht und gesagt: »Sie haben doch recht gehabt.« Er hat gemeint: »Ich war ja selbst nicht sicher.« Nun bin ich 80 und kann noch ein paar Jahre haben. Das macht mir Freude.

Sind Sie dankbar, dass Sie noch leben?
Ich? Wem? Ich bin nicht gläubig. Ich bin froh, dass ich noch lebe. Es gibt diesen schönen Vers von Ingeborg Bachmann: »Nichts Schöneres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein.« Ich habe nicht mehr viel Zeit. Man kann sich alles einteilen, Geld, aber Zeit nicht. Die Zeit geht voran, egal, was man macht oder nicht macht. Die Zeit ist das, worauf ich am meisten Wert lege und was ich mir am wenigsten rauben lassen will. Jeden Tag weniger.

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Woher nehmen Sie Ihre Lebenskraft?
Ich hab ja gar nicht so viel Lebenskraft. Ich habe Glück.

Ihr Leben war schon oft bedroht. Sie haben einen sehr schweren Unfall überlebt und drei Konzentrationslager, eines davon war Auschwitz. Alles Glück?
In Auschwitz wurden an einem Tag Frauen und Mädchen über 15 ausgesucht, sie sollten in ein Arbeitslager kommen. Bei der Selektion habe ich mich für 15 ausgegeben, obwohl ich erst zwölf war. Das schien keine so große Entscheidung zu sein.

Sie hatten es vorher schon einmal versucht und wurden zurückgeschickt. Hatten Sie nicht große Angst?
Meine Mutter hat mich dazu überredet, es noch mal zu versuchen. Ich wollte eigentlich nicht. Man wusste ja nicht, wohin man geschickt würde. Wir waren umgeben von Leuten, die sagten, bis jetzt ist alles immer noch schlimmer geworden, warum sollen wir uns da melden? Nur wenn man zurückschaut, schüttelt man den Kopf und denkt: Wie bin ich da überhaupt rausgekommen? Denn die, die geblieben sind damals, sind alle vergast worden.

Es war Ihnen aber in dieser Situation nicht klar, dass es um Leben und Tod ging?
Nicht einmal das. Meiner Mutter, die in ihrer paranoiden Art eher zum Zweifel und auch zur Verzweiflung neigte, war das schon eher klar.

Also war Paranoia nützlicher als guter Glaube?

Ich zitiere in meinem Buch weiter leben den polnischen Schriftsteller Tadeusz Borowski, der auch in Auschwitz-Birkenau war. Er sagt, die Hoffnung macht feige. »Man hat uns nicht gelehrt, die Hoffnung aufzugeben. Deswegen sterben wir im Gas.« Das ist ein toller Satz, so richtig. In Auschwitz war es genauso: Die Leute, die gedacht haben, es wird schon irgendwie wieder, sind umgekommen.

Ihre Mutter hat Sie damals also gerettet. Und doch hatten Sie immer ein schwieriges Verhältnis zu ihr. Warum?
Eltern waren anders zu ihren Kindern als heute. Man hat Kinder viel mehr geohrfeigt und das gar nicht ernst genommen. Es gibt ganze Generationen von grausam erzogenen Kindern, die selbst grausam werden. Meine Mutter war vereinnahmend und stachlig. Als ich klein war, hat sie mich gezwungen, kratzige Wollunterwäsche zu tragen. Und es gab überhaupt keinen Grund dafür. Besonders wenn man bedenkt, dass die Mütter selbst solche Unterwäsche nicht getragen haben, sondern sich das Feinste, das sie sich leisten konnten, ausgesucht haben. Diese kleinen Grausamkeiten zwischen den Generationen – meiner Mutter ist es in ihrer Kindheit auch nicht so gut gegangen, ihre eigene Mutter war hoch neurotisch.

Das Richtige kann aus dem Falschen kommen

Nach dem Krieg und dem Notabitur studierte Ruth Klüger ein Jahr in Regensburg und emigrierte, 16 Jahre alt, mit ihrer Mutter nach New York.

Sind Sie Ihrer Mutter ähnlich?
Dem Aussehen nach nicht, da ähnele ich meinem Vater. Meine Mutter hatte grüne Augen, und ich habe braune. Sie hatte eine Großzügigkeit, die mochte ich gern. Darin würde ich sie gern nachmachen. Sie hat meine Pflegeschwester unter Umständen adoptiert, die schwieriger nicht hätten sein können: im Konzentrationslager. Aber sonst habe ich mich dagegen entschieden, so zu werden wie sie.

Kann man das: sich dagegen entscheiden? Prägt einen die Mutter nicht sehr?
Ich hatte gar nicht so viel mit ihr zu tun. Als ich klein war, in Wien, war sie kaum da. Ich durfte als Jüdin ja nicht einmal in die Schule gehen, saß immer allein in der düsteren Wohnung und habe Balladen von Schiller auswendig gelernt. Ich hätte mir gewünscht damals, dass sie mehr für mich da gewesen wäre.

Aber Sie waren zusammen in den Lagern, aufeinander angewiesen sogar.
In Theresienstadt und Auschwitz war ich nicht mit ihr zusammen, sondern mit den anderen Kindern. Als wir nach unserer Flucht für zwei Jahre in Straubing waren, hat sie die Woche über in Regensburg gearbeitet. In New York haben wir von 1947 an kurze Zeit zusammengelebt, bis ich geheiratet habe. Da habe ich meine Mutter verlassen und mich ziemlich schuldig gefühlt.

War es nicht normal, von zu Hause wegzugehen, wenn man erwachsen war?
Diese Generation hatte das Gefühl: Eine Tochter bleibt bei der Mutter. Aber um meine Mutter konnte man sich nicht kümmern. Sie hat in Amerika auch gleich wieder geheiratet. Erst als sie alt war und hier in Kalifornien lebte, wurde es leicht mit ihr.

Warum?
Da konnte ich etwas für sie tun. Sie ließ es zu. Auch wenn sie immer noch versucht hat, mich zu ärgern.

Und Sie haben sich immer noch ärgern lassen?
Na ja, schon. Wenn ich reinkam und sie sprach mich mit »Sie« an, zum Beispiel weil sie nicht gut fand, was ich anhatte. Sie ist 97 Jahre alt geworden. Es war ein verflixtes Verhältnis. Mir ist erst kürzlich aufgefallen, dass es die Mutter-Tochter-Beziehung in der Literatur und Mythologie bis vor Kurzem überhaupt nicht gegeben hat. Die Literatur ist voller Mütter, aber es sind immer Mütter von Söhnen. Dabei ist das eine so wichtige Beziehung zwischen Müttern und Töchtern.

Haben Sie Ihre Mutter geliebt?

Ja, sicher. Wenn man jetzt wüsste, wie man Liebe definiert. Wenn es um große Anhänglichkeit geht, ja. Aber nicht, wenn es um Vertrauen geht.

Ist Ihnen das passiert, dass Liebe und Vertrauen eins geworden sind?
Bei verschiedenen Freundinnen. Aber nicht mit meiner Mutter.

Und sonst in der Familie?
Meine Familie wurde zerschlagen durch den Krieg. Es gab Verwandte in New York, aber sie waren früher emigriert und schon so amerikanisch. So sehr konnte ich mich nicht anpassen. Ich wusste gar nicht, wie ich mich in den amerikanischen Teenager der Vierzigerjahre hätte verwandeln können.

Was wurde vom Teenager der Vierzigerjahre erwartet?
Alles steuerte darauf hin, dass die Mädchen heiraten und die Buben Geld verdienen. Die Frauen haben im Krieg noch stark mitgearbeitet, aber das wurde nach dem Krieg alles zurückgenommen. Die Idee war dann, dass Mädchen abhängig sind. Und ich wollte was werden. Ich wollte unabhängig sein.

Und doch haben Sie jung geheiratet und Kinder bekommen.
Aber ich wollte einen Beruf haben, auch als verheiratete Frau und Mutter. Ich habe immer gearbeitet und verdient, vor den Kindern habe ich Anglistik studiert und im Büro gearbeitet, dann lange als Bibliothekarin.

Sie haben sich als »Krückstock« für die Karriere Ihres Mannes empfunden. Warum?

Ich habe seine Dissertation getippt und gearbeitet und in die gemeinsame Kasse gezahlt. Mein Beruf hat ihn nicht interessiert. Er war Historiker, ich die faculty wife, sein Anhängsel. Er ist ursprünglich Berliner gewesen und auch emigriert.

Was haben Sie sich von der Ehe versprochen?
Wenn Sie mich jetzt fragen, was der größte Fehler war, den ich je gemacht habe, so würde mir zuerst einfallen: meine Ehe. Das war wirklich blödsinnig, mit 21 Jahren einen zu heiraten, bei dem ich völlig unsicher war, ob das klappen könnte. Ich habe eigentlich von Anfang an gewusst, dass es nicht klappen würde. Und gleichzeitig sind aus dieser schlechten Ehe diese beiden Kinder hervorgegangen, die ich innig liebe. Und wer wünscht sich seine Kinder ungeboren?

Es war schlechter Geschmack, Hitler sexy zu finden

In den 50er-Jahren heiratete sie den Historiker Tom Angress, zog mit ihm nach Connecticut und bekam ihren ersten Sohn, Percy.

Sie meinen: Es war ein Fehler und auch wieder keiner?
Ich meine: Das Richtige kann aus dem Falschen kommen. Auch aus schlechten Erfahrungen können sich Dinge ergeben, die nicht rückgängig gemacht werden wollen. Wie Kinder, die man liebt. Das ist übrigens auch eine Liebe, die nicht unbedingt mit Vertrauen zu tun hat. Kinder lügen einen ja an. Und man selbst hat die eigenen Eltern angelogen. Eltern und Kinder verschweigen sich gegenseitig viel.

Haben Sie um Ihre Ehe gekämpft?
Es hat Versuche gegeben, es zwischen uns ins Reine zu bringen, aber es hat nicht funktioniert. Er war kein Mann, mit dem man reden konnte – ich spreche in der Vergangenheit von ihm, weil er letztes Jahr gestorben ist.

Sie waren knapp zehn Jahre verheiratet und erst Anfang 30, als Sie sich scheiden ließen. Hatten Sie den Wunsch, dass es mit einem anderen Mann klappt?
Ich hab schon noch ein paarmal gedacht, das könnte es sein, aber es ging nie wieder tief, auch wenn ich mir wochenlang eingebildet habe, es sei wichtig. Um mich herum gab es noch keine selbstbewussten alleinstehenden Frauen, da hat jeder erwartet, dass ich mir wieder einen Ehemann angeln werde. Doch mir war das nicht mehr wichtig genug. Ich wollte Literaturwissenschaftlerin werden, promovieren und mich, so gut ich konnte, um die Kinder kümmern. Ich glaube, ich war von Anfang an nicht für eine Ehe gemacht.

Warum glauben Sie das?
Ich wurde von Frauen erzogen. Und die Machthaber, die Nazis, waren Männer. Ich stoße immer wieder auf Empörung, wenn ich das sage, aber die hohen Kriegsverbrecher waren Männer. Natürlich haben die Frauen mitgeschrien und Hitler bewundert. Und, ja, stimmt, es war schlechter Geschmack, Hitler sexy zu finden. Aber schlechter Geschmack ist kein Verbrechen.

Sie misstrauen Männern zutiefst?
Das ist es nicht nur. Da ich zu der Minderheit der verfolgten Juden gehörte, hatte ich mit Männern nichts zu tun. Unsere Männer mussten fliehen oder wurden in KZs verschleppt. Ich war allein mit Frauen, in Wien, im Lager, und nachher in New York bin ich an ein Frauencollege gegangen. Das Unabhängigsein war trotz aller Schwierigkeiten eine Selbstverständlichkeit, auch wenn man nicht alle Berufe ausüben konnte, so wie Männer die ausüben konnten. Aber dass man auf eigenen Füßen stehen musste, das war mir selbstverständlich. Auch meine Mutter war so erzogen, dass man heiraten muss. Aber ich habe sie die ganze Zeit unabhängig erlebt.

Es war also keine Enttäuschung über die Liebe, die Sie von den Männern entfernt hat?
Nein, überhaupt nicht. Das hat die Geschichte so arrangiert. Es ist leicht, sich vorzustellen, dass das Leben ganz anders hätte verlaufen können. Dass man nicht durch drei Konzentrationslager gegangen wäre. Ich spiele gern das Spiel, mich zu fragen: Was wäre, wenn… Wenn ich zum Beispiel auf den Kindertransport nach England gekommen wäre. Das wäre ein ganz anderes Leben geworden. Ich wäre immer noch Jüdin, Emigrantin, aber ich hätte die KZs nicht erlebt und wäre viel früher in eine englische Gesellschaft hineingewachsen. Mir wäre das lieber gewesen. Aber meine Mutter wollte das nicht.

Ihre Mutter hat damals nicht zugelassen, dass Sie mit einem der letzten Kindertransporte nach England fuhren. Haben Sie ihr das verübelt?

Das war ihr gutes Recht, sie hatte Angst, mich nie wiederzusehen.

Ihr älterer Sohn wollte mit 14 Jahren bei seinem Vater leben. Mal küchenpsychologisch gefragt: Kann es sein, dass Sie ihn haben fortgehen lassen, eben weil Ihre Mutter Sie damals nicht gehen ließ?
Nein, so geht das nicht auf. Ich habe eher gedacht: Wer nicht mit mir leben will, muss nicht mit mir leben. Und habe gesagt: »Jederzeit kannst du zu mir zurückkommen.« Zwei Jahre später kam er dann ja auch.

Sie schreiben, er hat Ihnen das Herz gebrochen damals.
Ja, und er ist mir dadurch entfremdet. Er hat mir später gesagt, ich hätte um ihn kämpfen sollen.

Sie wirken so entschieden und stark. Wie passt das dazu, dass Sie in manchen Momenten das Feld kampflos räumen?
Ich mache keine Szenen, nie. Wenn es schwierig wird, gehe ich weg. Wenn es ganz schwierig wird, schütte ich jemandem ein Glas Wein ins Gesicht und gehe dann weg.

Erzählen Sie die Geschichte?
Ein jüdischer Professor in Princeton hat mir Antisemitismus vorgeworden. Das muss man sich mal vorstellen, mir, einer Jüdin, die in Birkenau war. Wie kam er wohl dazu?

Die Antwort auf die Bevölkerungsprobleme ist Feminismus

Das haben Sie ihn selbst aber nie gefragt, oder?
Ach, ich laufe lieber davon, das kann ich gut. Oder umgehe die Hindernisse. Ich gebe sehr leicht auf. Das Weglaufen ist nicht so eine schlechte Sache. Wir sind kurz vor Kriegsende von einem Todesmarsch geflohen und haben uns so gerettet. Das prägt einen. Und doch bilde ich mir ein, dass ich sage, wenn was schiefgeht. Aber die Leute hören nicht zu, wenn man keine Szenen macht, besonders die Männer nicht.

Sie waren von 1980 bis 1986 Germanistikprofessorin an der Universität Princeton, eine Frau unter lauter Männern. Eine schwierige Zeit?
Das war der größte Fehler, den ich in meiner beruflichen Laufbahn gemacht habe. Es war interessant und natürlich sehr gut fürs Image. Aber dort habe ich gelernt, was es bedeutet, wenn man eine Renommierfrau ist. Die Männer wollten bewundert werden, das war die geeignete Rolle für eine gebildete Frau. Was ich geschrieben oder gedacht habe, war bedeutungslos.

In Ihrem zweiten Erinnerungsbuch, unterwegs verloren, ziehen Sie das Resümee, die sechs Jahre Princeton hätten Sie »wehleidiger und ungeschützter gemacht, leider auch zynischer«. Heißt es nicht, was mich nicht umbringt, macht mich stärker?
Das ist Nietzsche. Ich bin keine Nietzscheanerin, ich bin Freudianerin. Ich glaube, dass die Haut nicht besser wird von der kratzenden Unterwäsche, sondern dünner. Es wäre ja ein Grund, Kinder zu schlagen, wenn sie das stärker machte. Das ist die Idee einer Kindererziehung durch Strafen.

Heute gibt es viele erfolgreiche Frauen an amerikanischen Universitäten. Sind Sie zufrieden mit der Situation für Frauen?
Die Situation der Frauen an den amerikanischen Universitäten ist gut, besser als in Deutschland. Bei euch in Deutschland gibt es dafür viele Zahnärztinnen. Bei uns verdienen die Zahnärzte so gut, dass die Männer die Frauen nicht ranlassen. Man sollte wirklich gewarnt sein zu glauben, die Frauen hätten alles erreicht. Das war schon einmal so, nach der ersten Frauenbewegung. Da wollten sie das Wahlrecht, und als das in allen fortschrittlichen Ländern errungen war, hat sich die Bewegung zerstreut. Das war ein Fehler, das sollte nicht noch einmal passieren.


Sie sind einmal als »sportliche Feministin« bezeichnet worden. Was sagen Sie dazu?

Ich bin nicht Feministin aus sportlichen Gründen, sondern aus Notwendigkeit. Aus Notwendigkeit sich zu behaupten, sich durchzuschlagen, ein einigermaßen würdiges und wertvolles Leben zu führen. Man kann nicht nachgeben, wenn man auch viele Dinge erreicht hat. Es gibt noch zu viel, das auf der Kippe steht.

Junge Frauen sagen jetzt oft, dass es keine großen Unterschiede mehr zwischen Männern und Frauen gibt.

Unsere Töchter sind so erzogen worden, dass sie so gut sind wie die Buben und alles machen können. Und dann bekommen sie Kinder, und die Schwierigkeiten fangen an. Das ist der Grund, warum die Bevölkerung abnimmt. Was ich ja gar nicht schlecht finde, es müssen nicht nur germanische Menschen in Nordeuropa leben. Die Antwort auf die Bevölkerungsprobleme ist Frauenerziehung, Frauenausbildung, Feminismus. Wenn Frauen herausfinden, dass sie noch etwas anderes können, haben sie weniger Kinder.

Oder sie versuchen, alles zu schultern.
Was auch nicht schadet. Überlegen Sie mal, wie hysterisch die Frauen früher geworden sind, wenn sie nichts anderes zu tun hatten, als zu Hause zu sein und zu kochen. Wenn man glaubt, die hatten es gut, irrt man. Sie hatten es nicht gut. Sie hatten nichts zu sagen im Gemeinwesen. Jede Unze Unabhängigkeit ist wertvoll. Man soll sie sich nicht nehmen lassen, auch wenn man ein paar harte Jahre hat.

Sind Sie milder geworden mit den Jahren? Versöhnlicher?
Nein, eigentlich nicht. Mir wird manchmal vorgeworfen, dass gerade in meinem zweiten Erinnerungsbuch, unterwegs verloren, alle möglichen Ressentiments stecken, und ich sage dann freudig: »Das ist total richtig. Ich bin dafür, Ressentiments zu hegen.« Ich halte das für eine angemessene Weise, mit Ungerechtigkeiten umzugehen, gegen die man nichts machen kann. Ich will mich nicht aussöhnen, zum Beispiel mit den Kriegsverbrechen. Nichts ist wiedergutzumachen. Was geschehen ist, ist geschehen.

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Bio:

Ruth Klüger

*30. Oktober 1931

Sie wurde im Zweiten Weltkrieg als Jüdin verfolgt. In den USA machte sie als Literaturprofessorin Karriere – und entwickelte auch in dieser Position eine große Sensibilität für Diskriminierung. Als sie Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers in einem offenen Brief als unverzeihlich antisemitisch verriss, zerbrach die Freundschaft mit ihm, die seit Kriegsende bestand. Ihre Autobiografie weiter leben (1992) über die Kindheit in Wien nach dem Anschluss Österreichs 1938, die Gefangenschaft in drei KZs und die Emigration nach Amerika wurde im Literarischen Quartett von Marcel Reich-Ranicki gelobt und ein Bestseller in Deutschland. Ruth Klüger lehrte Germanistik an der University of Virginia, in Princeton und in Irvine, Kalifornien, wo sie heute lebt, Bücher rezensiert, an einem Gedichtband schreibt. Am 4. Juli wird sie bei den Literaturtagen in Klagenfurt zu Gast sein.

Fotos: Andy J. Scott (1) und privat (2)