An meiner Schule, einer Internatsschule der Benediktiner in Bayern, war der Bundestagswahlkampf im Herbst 1972 ein großes Thema. In unserer karg bemessenen Freizeit diskutierten Lehrer, Erzieher und Schüler mit großer Leidenschaft über das Schicksal der Regierung Brandt – jedenfalls die an Politik Interessierten, aber das waren eine ganze Menge in dieser Zeit. Alle paar Wochen erstellte eine Gruppe von Schülern eine fast zweistündige »Radiosendung«, letztlich eine Tonbandaufnahme mit Musik, Geschichten, Interviews: das Funkmagazin. Abends wurde die Aufnahme in den Schlafsaal übertragen. Für dieses Funkmagazin interviewte ich in einem Nachbardorf wahllos Passanten, aber auch den Bürgermeister, zur bevorstehenden Wahl.
In den Monaten zuvor hatte ich mein Interesse für Politik entdeckt und bewunderte Willy Brandt. Dieser politischen Präferenz wegen wurde ich nicht freundlich behandelt, jemand drückte mir das Rotbuch in die Hand – eine Schmähschrift über Brandt und Wehner, die den Geist der Auseinandersetzungen der Weimarer Republik atmete. Und einer der Befragten, der mit Anzug und Krawatte – obwohl es Samstag war – aus der S-Bahn stieg, sagte nur: »Brandt an die Wand!« Den Spruch hatte ich so schon öfter gehört. Die Sprache der politischen Auseinandersetzung war voller Gewalt.
Es gab in dieser Zeit auch eine alltägliche und tatsächliche Form der Gewalt: Obwohl die Anwendung von Gewalt im Schulalltag in den Siebzigerjahren verboten war, akzeptierten viele Lehrer in gewissen Grenzen »körperliche Züchtigung«. Offen wie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren machte sich zwar kaum mehr ein Lehrer oder Erzieher für die heilsame Wirkung einer Ohrfeige stark. Trotzdem gehörten Schläge noch zum Schulalltag. Allemal an Schulen wie der meinen. Auf unsere Weise schlugen wir zurück: mit Grausamkeit und Provokation – körperliche Einschränkungen und Besonderheiten der Lehrer und Erzieher brutal benennend und oft Verachtung zeigend.
Ein solches Lehrer-Schüler-Verhältnis war nicht der Regelfall – auch nicht an meiner Schule –, aber es war auch kein Einzelfall. Da war nichts von der Schulromantik der Feuerzangenbowle. Viele Lehrer und Erzieher – gerade die schwachen und oft auch die stärksten – glaubten in dieser Zeit noch immer an eine »schwarze Pädagogik«; nicht unbedingt als Methode der Erziehung, denn Pädagogen waren sie zumeist nicht, sondern als einen Teil der täglich erfahrenen Lebenswelt.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Lebenswelt der Deutschen verbannte Gewalt fand ihr Reservat in der Sprache, mit der man über den politischen Gegner urteilte, der Phantasmagorie fremder Länder, in denen Gut gegen Böse kämpfte, und in Räumen, in denen zumindest eine eingeschränkte Anwendung von Gewalt noch möglich war. Die drei Reservate gehörten eng zusammen.
Der Schulalltag war ein solcher Raum eingeschränkter Gewalt: Ein Grund für das Überleben der Gewalt gerade dort war eine Vorstellung von körperlicher Integrität, der man einen geringen, erst mit dem Alter wachsenden Stellenwert zumaß. Gerade Kindern – nicht trotz, sondern wegen ihrer Schwäche – wurde diese körperliche Unversehrtheit nicht zugestanden. Dies war sicherlich kein auf den Schulalltag beschränktes Phänomen – auch in Familien »rutschte einem Elternteil leicht einmal die Hand aus«, aber Gewalt war vor allem möglich, wenn die Umstände es erleichterten.
Als ich im Frühjahr dieses Jahres die Erklärungen von Bischof Walter Mixa hörte, Gewalt habe er nie angewendet, erinnerte ich mich an Erlebnisse meiner Schulzeit. Was die Opfer schildern, auch die Details – die Schläge mit den Fingerknöcheln –, das kommt mir bekannt vor. Die Täter aber, wie der Pfarrer Mixa, empfanden ihr Verhalten nicht als Anwendung von Gewalt. Für sie war es Erziehung, Ertüchtigung, Disziplin. Oft auch schlicht Überforderung. Unser gegenwärtiges Verständnis von Gewalt und körperlicher Integrität ist ein anderes als das der Siebzigerjahre. Daher führen wir die Diskussion auch mit dieser Verspätung. So auch in der Politik: Wer »Brandt an die Wand!« rief, sah sich wahrscheinlich nicht als Mitglied eines Erschießungspelotons. Er war überzeugter Demokrat, aber ein offenes Wort musste doch gesagt werden dürfen!
Die Lebenswelten in den Siebzigerjahren waren sehr unterschiedlich, und sie existierten nebeneinander. Dabei begann sich vieles sehr schnell zu ändern. Diese Veränderungen führten zu Verunsicherungen – auch in meinem Schulalltag. »Mehr Demokratie wagen« bedeutete letztlich, dass es ein Demokratiedefizit gab – ein nicht zu unterschätzender Vorwurf –, und dass nun also »mehr Demokratie« gefordert wurde, das bedeutete Machtverlust. Eine Dekade des Machtverlusts für die einen, mehr Demokratie und Emanzipation für die anderen – die Geschichte zweier Welten.
Ich trat im Herbst 1969 in eine Dependance eines benediktinischen Internats ein. Wenige Wochen nach dem Beginn des Schuljahrs wurde Willy Brandt Kanzler. Den Gesprächen meiner Lehrer und Erzieher entnahm ich, dass sie diesen legalen Machtwechsel doch nicht als legitim betrachteten. Es regierten nun Menschen, denen sie mit verdeckter oder auch offener Verachtung begegneten. Die Anklagepunkte – vor allem gegen Willy Brandt und Herbert Wehner – waren zahlreich: Frauengeschichten, Scheidungen, Alkohol, Vaterlandsverrat mittels Flucht oder Emigration, Atheismus, Sympathie für die Sowjetunion, eine kommunistische Vergangenheit – die Liste lässt sich lang fortsetzen. Es war, als ob der sich selbst als »bürgerlich« bezeichnenden Klasse etwas genommen worden war: das selbstverständliche Recht zu regieren. Dem Usurpator begegnete man mit Wut.
Ich habe dies damals selbstverständlich nicht in solcher Weise analysiert. Mich verwunderten die Leidenschaft und die Emotionen vieler Reden und Gespräche. Ich suchte die Erklärung für dieses Verhalten mit den Mitteln, die mir zur Verfügung standen. Jahre der Lektüre von Karl Mays Romanen hatten mich misstrauisch gemacht: Vielleicht waren ja die Außenseiter – als solche musste ich die jetzt in Bonn Regierenden, dem in meiner Schule täglich Gehörten folgend, sehen – im Recht? War dieser Willy Brandt gar jemand wie der Befreier Mexikos, Benito Juárez? Mich irritierte, dass meine Erzieher nicht von Gerechtigkeit sprachen oder vom Frieden, wenn von Politik die Rede war – im Schulalltag und in Gottesdiensten war nämlich sehr viel davon die Rede.
Vor den Weihnachtsferien, in der letzten Mathematikstunde, durften wir unserem Mathematiklehrer, einem besonnenen Mann, Fragen stellen – zu jedem Thema. Irgendwann kam die Rede auf Vietnam. Präsident Nixon weitete in jenen Tagen die Bombenangriffe auf Nordvietnam aus. Spöttisch erklärte der Lehrer, dies sei alles zu wenig. Die deutschen Soldaten hätten in Russland anders gekämpft als die Amerikaner in Vietnam. Hier hätten die Amerikaner noch viel zu lernen. Etwas verwirrt fuhr ich in die Weihnachtsferien.
Die 1949 errichtete Demokratie hatte sich in den Nachkriegsjahrzehnten – unter günstigen Umständen – als stabil erwiesen. Die alten Denkweisen waren aus dem politischen Alltag fast verbannt. Nur wenn es um politische Welten ging, die weit entfernt waren, deren Bedeutung für die eigene Situation nicht klar war, konnte man noch frohen Herzens Gewalt gutheißen. Wer das tat und über Vietnam, Chile oder Spanien sprach, meinte oft auch die Bundesrepublik, die sich seit 1969 so schnell veränderte. Dies galt für beide Seiten des politischen Spektrums. Auch die Gründergeneration der RAF sprach zuerst über Vietnam und Persien, bevor sie sich selbst als ein deutsches Pendant der Tupamaros, der Befreiungsbewegung von Uruguay, zu begreifen begann.
Ich schlug mich in dieser Zeit mit den Widersprüchen in meiner Umgebung herum. Der Widerspruch zwischen den Botschaften der Gottesdienste, dem täglich gehörten Evangelium und den Gesprächen in Studier- und Schlafsaal hatte mich zu einer harschen Ablehnung des Konservativismus meiner Lehrer und Erzieher gebracht. Aber eine Einschränkung machte ich: Meine Meinung von den politischen Überzeugungen meiner Erzieher war, formuliert mit der Selbstgerechtigkeit eines Pubertierenden, gering, aber ich hielt die meisten von ihnen doch für Menschen, die Gewalt ablehnten. Die immer mal wieder gegen uns Seminaristen ausgeübte Gewalt ordnete ich nicht als »politisch« ein, sie gehörte zum Alltag. Aber ganz so einfach war das nicht.
Am 11. September 1973 putschten Teile des chilenischen Militärs gegen die von Präsident Salvador Allende geführte Regierung. Chile – seit den Präsidentschaftswahlen von der Unidad Popular, einer linken Parteiallianz, regiert – litt seit Monaten unter zunehmender Instabilität. Nahrungsmittelknappheit, ständige Streiks, politische Gewalt und Unruhen kennzeichneten die Lage. Das Militär ging mit einer Brutalität und Gnadenlosigkeit gegen die Regierung und ihre Anhänger vor, die fast alle blutigen Staatsstreiche und Machtübernahmen durch Militärs, an denen die südamerikanische Geschichte reich ist, weit übertraf.
Wie immer man zu Allendes Regierung gestanden sein mochte, diese Exzesse an Gewalt konnte niemand rechtfertigen. Aber aus der CDU, immerhin von ihrem Generalsekretär, waren verstörende Sätze zu hören: »Soweit wir Einblick bekommen haben, bemüht sich die Militärregierung in optimalem Umfang um die Gefangenen. Die Verhafteten, die wir sprachen, haben sich nicht beklagt.« Über die im Stadion von Santiago de Chile gefangenen und gefolterten Chilenen höhnte der Politiker: »Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm.« So weit Bruno Heck, bis 1971 Generalsekretär der CDU, nach seiner Rückkehr aus Chile im Oktober 1973.
Die konservative Presse schlug in die gleiche Kerbe: »Jetzt hat die Armee nicht mehr länger stillgehalten. Drei Jahre Marxismus sind ihr genug.« (Bild-Zeitung, 12.9.1973) Es ging noch deutlicher: »Im Augenblick der höchsten Gefahr konnten sich die Streitkräfte ihrer Verantwortung nicht mehr länger entziehen. Sie können nur obsiegen, wenn sie sofort und mit aller Schärfe reinen Tisch machen.« (FAZ, 12.9.1973) Politische Rhetorik, die den Mord an Tausenden als notwendigen Akt der Verantwortung beschreibt. Franz Josef Strauß konnte da nicht zurückstehen: »Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang.« Eine existenzielle Auffassung von Politik: Freund oder Feind, »Brandt an die Wand!«, »Schwein oder Mensch«.
Als der spanische Diktator schließlich im Sterben lag, haben wir im täglichen Gottesdienst für ihn gebetet.
An meiner Schule gab es keine Sympathie für »den einzigen frei gewählten marxistischen Regierungschef«, wie Allende nicht ohne Sarkasmus genannt wurde. Ich unterstellte meinen Lehrern und Erziehern, dass sie eine Militärdiktatur einer »Volksfrontregierung« vorzogen, auch wenn Letztere frei gewählt war, und hatte deshalb eine ziemlich klare Vorstellung von der Diskussion, die in der nächsten Woche, der ersten des neuen Schuljahres 1973/74, folgen würde. Doch auf die bereitwillige Akzeptanz der Morde und Folterungen, die Häme über den toten Präsidenten und die Gefangenen in den Stadien war ich nicht vorbereitet. Viele Bemerkungen waren menschenverachtend, gingen von der Prämisse aus, dass Folter und Hinrichtung das verdiente Schicksal der Anhänger der alten Regierung seien. Als ich General Pinochet als »Faschisten« bezeichnete, schlug mir ein Präfekt ins Gesicht. Es war nicht das erste Mal, dass ich geschlagen wurde, aber das erste Mal aus politischen Gründen.
Mein Idealismus hatte mir den Blick auf eine Realität der frühen Siebzigerjahre versperrt. Große Teile der (selbst ernannten »bürgerlichen«) Gesellschaft der alten Bundesrepublik waren nicht nur bereit, Gewalt außerhalb der eigenen Lebenswelt zu tolerieren, sondern empfand geradezu Sehnsucht nach dieser Gewalt. Die Welt »dort draußen« war ein Refugium der Sehnsucht nach Radikalität und Entscheidungen. Die kleine Gewalt im Schulalltag ihr Pendant.
Als der greise spanische Diktator Franco 1974 den erst fünfundzwanzigjährigen »Anarchisten« Salvador Puig Antich durch die Garrotte hinrichten ließ, zeigte keiner meiner Erzieher Empathie. Auch jetzt war Genugtuung zu spüren, gemischt mit einem gewissen Bedauern, dass es in der Bundesrepublik keine Todesstrafe gab.
Immerhin: Wir hatten ja Richard Jaeger, Mitglied der CSU, zweimal Vizepräsident des Deutschen Bundestages, von 1965 bis 1966 Bundesminister für Justiz – während der Zeit des Nationalsozialismus war er Mitglied der SA. Anders als bei Brandt und Wehner zweifelte niemand an seinem Patriotismus. Ein ehrenwerter Mann und aufrechter Demokrat. Er forderte die Abschaffung der obligatorischen Zivilehe, hohe Gefängnisstrafen für Ehebruch, die gerichtliche Verfolgung von Gotteslästerung und Störung des religiösen Friedens sowie die Einführung der Todesstrafe für Mord und andere Kapitalverbrechen und erlangte so während seiner politischen Karriere schnell einen hohen Bekanntheitsgrad. Den Spitznamen "Kopf-ab-Jaeger" führte er nicht ohne einen gewissen Stolz – bei aller manchmal notwendigen Distanzierung.
Jaeger hatte politische Kontakte nach Portugal und Spanien, war zu Zeiten Francos und Salazars häufig dort anzutreffen. Äußerungen Jaegers waren etwa, dass »ein Rechtsstaat auch ohne Demokratie möglich« oder dass die Abschaffung des Zuchthauses in den Sechzigerjahren und die »Abschaffung der Strafbarkeit der Sodomie und der Homosexualität unter Erwachsenen« nichts weiter als ein »Symbol der weichen Welle« seien. Es waren eben verschiedene Lebenswelten.
Was war da schon ein bisschen Prügeln in der Schule! Als der spanische Diktator schließlich im Sterben lag, haben wir im täglichen Gottesdienst (meiner Erinnerung nach mindestens einmal, aber vielleicht auch öfter) für ihn gebetet. Für den Kommunisten Salvador Puig Antich natürlich nicht.
Diese Haltung reichte weit bis in das Zentrum der CDU. In der bayerischen CSU war sie wohl noch verbreiteter. Betrachtet man die Mehrheitsverhältnisse, dann fand dieses Denken Akzeptanz in der Mitte der Gesellschaft. Als Hochschullehrer habe ich später einmal eine Magisterarbeit betreut, die die Berichterstattung des Bayernkuriers zu Portugal und Spanien untersuchte. Mit aller Vorsicht formuliert: Auf der Seite der Demokratie stand dieses offizielle Organ der CSU – wenn es um die weite Welt ging – nicht immer.
Und dann gab es auch noch die Diskussion über Griechenland, die Apartheid in Südafrika. Und immer die gleichen Argumente; die Akzeptanz der Gewalt in ihren letzten Reservaten – in der sich immer mehr demokratisierenden Bundesrepublik.
Die Akzeptanz der, ja die Sehnsucht nach Gewalt gebiert Sehnsucht nach Gegengewalt. Wenige Monate nach dem Putsch in Chile, Ende Dezember 1973, ermordete die ETA den spanischen Ministerpräsidenten Admiral Luis Carrero Blanco. Auch ich empfand Genugtuung über den Tod des Vertrauten und designierten Nachfolgers Francos, den ich als einen Mörder betrachtete. Darüber stritt ich mit Mitschülern und Erziehern. Es war ein seltsamer Diskurs über die Notwendigkeit der Gewalt am fernen Ort.
In diesem Kontext spielte sich auch die Auseinandersetzung um die Anschläge und Morde der RAF und anderer terroristischer Gruppierungen ab. In der Diskussion zeigte sich diese Dialektik von Gewalt und Gegengewalt allzu deutlich: Der Gegner wurde zum Feind, entmenschlicht und außerhalb der Gemeinschaft gestellt. Die Forderung nach Standjustiz in der Bundesrepublik (Franz Josef Strauß zugeschrieben) und die Sympathie für die ausländischen Diktatoren entsprachen der »klammheimlichen« Freude des Göttinger »Mescalero« nach der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und der menschenverachtenden Sprache der RAF-Kassiber.
Peter Glotz war einer der wenigen Intellektuellen der alten Bundesrepublik, der dieses Spiel einer entgleisenden Dialektik nicht mitmachte. Er stellte den linken Terrorismus in den richtigen historischen Kontext, ohne sich an Fantasien von Gegengewalt zu berauschen. Er stand damit als politisch Intellektueller weitgehend allein, aber zum Glück verteidigten ein besonnener Justizminister Hans-Jochen Vogel und ein ebenso besonnener Kanzler als die für die Exekutive Verantwortlichen in dieser Zeit die junge Demokratie.
Eine Gruppe von Hochschullehrern veröffentlichte 1977 den Brief des Studenten Klaus Hülbrock, besser bekannt als Göttinger »Stadtindianer«, und ließ für dessen »klammheimliche Freude« vorsichtiges Verständnis erkennen. Glotz schrieb in einem offenen Brief an die Professoren: »Der Artikel verletzt, zerreißt einen Konsens, den es vom Bestehen der Bundesrepublik bis zum Beginn der terroristischen Gewaltkriminalität vor einigen Jahren gegeben hat: dass Mord kein Mittel der Politik sei, dass man mit dem Gedanken an Mord nicht herumspielt und dass auch der politische Gegner in seiner menschlichen Integrität nicht zerstört werden soll. Durch Ihre Präsentation dieses Textes haben Sie an diesem Zerstörungsprozess bewusst mitgewirkt. Haben Sie jemals bedacht, welche Reaktionen auf der anderen Seite des politischen Spektrums solche Texte auslösen werden? In der Weimarer Republik haben moralisch-politisch Entgleiste – übrigens wie heute viel ›akademische Jugend‹ – zuerst sprachlich die Humanität niedergerissen und dann ihre Parolen praktiziert. Der Satz ›Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau‹ steht heute in jedem Geschichtsbuch. Lässt die gesellschaftliche Ächtung der Mördersprache nach, werden auch die ›Brandt an die Wand!‹-Sprüche bald wieder politischer Alltag werden.«
Glotz fasste klug den Fortschritt der Siebzigerjahre zusammen: Das Jahrzehnt erlebte einen oft schmerzhaften, immer wieder unterbrochenen Zivilisierungsprozess. Dieser Prozess lässt sich an einer Reihe sozialer Phänomene erkennen, eines davon ist eine veränderte Einstellung zur Gewalt. Die im »westlich« dominierten Teil der Welt verbliebenen autoritären Regime demokratisierten sich (vor allem in West- und Südeuropa: Portugal, Spanien, Griechenland), traten in einen Demokratisierungsprozess ein (Türkei) oder wurden wenigstens nach außen geächtet (einzelne südamerikanische Diktaturen). Niemand in der deutschen Politik würde heute General Franco einem Felipe González vorziehen oder Pieter Botha einem Nelson Mandela. Damals war das anders. Nach dem Deutschen Herbst (der länger als der Herbst des Jahres 1977 dauerte) war die Dialektik von Gewalt und Gegengewalt gebrochen.
Gesellschaftlich wurde dieser Prozess durch eine Reihe von Fakten begünstigt: die das ganze Jahrzehnt andauernde Regierungszeit der sozialliberalen Koalition und ihrer besonderen Politiker – Brandt, Schmidt, Vogel, Maihofer, Glotz. Die Frauenbewegung, die Ökologiebewegung und schließlich am Ende des Jahrzehnts die neue Friedensbewegung beförderten diesen Prozess ebenso. Die personelle und inhaltliche Erneuerung der CDU nach 1972 trug ebenfalls zu diesem Prozess bei. Die Auffassungen eines Richard Jaeger würden heute – so mag man hoffen – zu einem Parteiausschluss führen.
Auch an meiner Schule war dieser Wandel zu beobachten. Sicher, ich wurde in diesem Jahrzehnt älter und eine körperliche Züchtigung schon aus diesem Grund unwahrscheinlicher. Trotzdem war ein Abnehmen körperlicher Gewalt erfahrbar. Gegen Ende des Jahrzehnts musste ein Lehrer, der – oft aus Hilflosigkeit und pädagogischem Unvermögen – Schüler geschlagen hatte, von einem auf den anderen Tag gehen. Es hatte sich etwas geändert.
Als ich Anfang der Achtzigerjahre in München studierte, traf ich eines Abends am Hauptbahnhof einen meiner ehemaligen Präfekten. Wir tranken zusammen ein Bier und sprachen über alte Zeiten. Der Präfekt leitete nunmehr ein Kloster in Südafrika. Wir hatten oft über Politik gesprochen und gestritten – nun sagte er ziemlich unvermittelt, dass er seine Meinung über viele Fragen geändert habe. Er sprach mit Hochachtung von Nelson Mandela, der zu dieser Zeit noch ein Gefangener auf Robben Island war. Und sparte nicht mit Kritik an der Sympathie der damaligen bayerischen Landesregierung für das Apartheidregime.
Die Demokratisierung der Siebzigerjahre, ein langwieriger, von Rückschlägen durchsetzter Prozess, aber eben doch ein linearer Prozess. Der Prozess, so zeigte sich in den letzten Monaten, war am Ende des Jahrzehnts noch nicht abgeschlossen. Aber die Reservate wurden kleiner und kleiner. Vielleicht ist jetzt ihr Ende gekommen.
Illustration: Benjamin Berndt