62 Zentimeter Hoffnung

Wir haben den kleinsten Mann der Welt besucht - und einen Menschen getroffen, dem eine große Karriere bevorsteht.

Einen Tag vor seinem großen Tag sitzt Khagendra Thapa Magar auf einem Schemel im Haus seiner Eltern und schiebt sich mit einem Teelöffel Kartoffelchipsbrösel in den Mund. Der Plastikball, mit dem er eben noch gespielt hat, ist durch die offene Tür in den Hof geflogen, dorthin, wo das Huhn nach Essbarem pickt, dorthin, wo Khagendra lieber nicht hingeht. Morgen, sagt sein Vater, wird Khagendra endlich erwachsen sein, 18 Jahre alt und damit bereit für den Eintrag ins Buch der Rekorde, bereit, den Namen der Familie über die Grenzen Nepals hinaus berühmt zu machen.

Khagendra ist klein, rekordverdächtig klein, wie ein drei Monate altes Baby etwa, nur nicht so pummelig. An seinem kugelförmigen Rumpf stecken Arme und Beine wie die Zahnstocher bei einem Kastanienmännchen. Er wirkt steif und doch zerbrechlich, käme ein Huhn auf ihn zu gerannt, es könnte ihn umwerfen. Im Gegensatz zu seinem holzpuppenhaften Körper strahlt sein Gesicht eine gesunde Wärme aus. Makellos weich liegt die Haut über seinen flachen Wangen, und unter seiner schmalen Nase öffnet sich ein Mund, der so klein ist, dass man nur schwer einen Esslöffel hineinschieben kann. Khagendras Anblick verwirrt erst einmal, denn er scheint gleichzeitig beides zu sein: Greis und Kind. Schon als Säugling war er nicht größer als eine ausgestreckte Hand, sagt seine Mutter. Die Nachbarn im Dorf hatten getuschelt, sie würde bestimmt ein totes Kind gebären, ihr Bauch sei kaum gewachsen, doch sie wusste, dass alles in Ordnung war, schließlich spürte sie seine Tritte. Am Tag seiner Geburt hatte sie morgens noch den Ziegendreck vor der Hütte weggemacht und später Essen gekocht, während ihr Mann auf dem Feld nach dem Reis schaute. Khagendras Eltern sind einfache Leute, Bauern, Analphabeten, wie die Hälfte der nepalesischen Bevölkerung, ihr Heimatdorf liegt in den Bergen etwa 200 Kilometer westlich der Hauptstadt Kathmandu. Sie wunderten sich zwar, was da nachts so klein auf die Welt kam, doch die Schwangerschaft hatte neun Monate gedauert, die Geburt war ohne Komplikationen verlaufen, in ihrer Hütte, ohne Arzt, wie es hier üblich ist, und schließlich schien ihr erster Sohn sonst recht gesund zu sein.

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Nur mit dem Essen gab es schon damals Probleme: Khagendras Mund war zu klein, die Brustwarzen zu umschließen, also träufelte ihm seine Mutter die Milch mit dem Finger ein. Als Khagendra fünf war, konnte er aufrecht sitzen, mit acht stand er auf und ging ein Stück an der Wand entlang, als er neun war, verstanden seine Eltern zum ersten Mal, was er ihnen sagen will. Seine Stimme ist heute noch hell und dünn und klingt ein bisschen so, als hätte er Helium inhaliert. Mit elf hörte Khagendra auf zu wachsen, mit 14 wurde er schließlich entdeckt.

Der, der ihn entdeckt hat, sitzt in einem Büro hinter seinem Schreibtisch und blickt selbstzufrieden durchs Neonlicht wie ein arroganter Beamter. Ein Cousin von Khagendras Vater hatte ihm von dem kleinen Menschen erzählt, und Min Bahadur, der eine Bank für Geldwechsel und Transfers betreibt, ein Geschäftsmann also, tat
das, was Geschäftsmänner tun, wenn sie eine Chance erkennen: Er griff zu und holte Khagendra und seine Familie aus ihrem Dorf hierher in die Stadt, nach Pokhara, einem Touristenzentrum, von wo aus Trekkingtouren in den Himalaja starten. Er veranstaltete traditionelle Tanzabende, an denen Khagendra vor Publikum auftrat, das Eintritt bezahlt hatte, zuerst nur in Pokhara, später auch in Kathmandu. Und er erzählte Khagendras Eltern vom Guinness-Buch der Rekorde, davon, dass ihr Sohn bald weltberühmt werden könnte. So berühmt wie He Ping Ping.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Nur noch eine Sache stand Khagendra bisher im Weg: Das Guiness-Buch verlangt, dass die Bewerber volljährig sind.)

Dessen Name steht bisher im Guinness-Buch unter dem Eintrag »Kleinster Mann der Welt«. Das Bild des 21-jährigen Chinesen kennt man aus der Zeitung: ein kleiner Mann mit winzigem Kopf, faltigen Gesichtszügen und abstehenden Ohren. Um für das Guinness-Buch zu werben, wurde er zuletzt nach London geflogen und fotografiert. He Ping Ping stand dort zwischen den Beinen der Frau mit den längsten Beinen der Welt, 132 Zentimeter lang. Min Bahadur, der Geschäftsmann, möchte zwischen diesen Beinen nun endlich Khagendra sehen.

Hinten, in seinem Büro neben dem Panzerschrank, klebt ein Poster von He Ping Ping an der Wand. Quer über seinen Mund hat Min Bahadur einen roten Strich gezogen. Bis hierher nur reiche Khagendra, sagt er. He Ping Ping ist 74 Zentimeter groß, Khagendra 62, wie ein Arzt festgestellt hat. In Taiwan heißt es, lebe noch ein Mann, der kleiner als 70 Zentimeter sein soll, aber sich nicht mehr richtig bewegen kann, wegen einer Knochenkrankheit, das disqualifiziert ihn für einen Eintrag. Min Bahadur ist sich also sicher, dass niemand Khagendra den Titel streitig machen kann. Nur eine Sache stand ihm und seinem Aspiranten bisher im Weg: Das Guinness-Buch verlangt, dass die Bewerber volljährig sind. Morgen, sagt er, hat er es nun endlich geschafft. Morgen ist auch Min Bahadurs großer Tag.
Pläne für die Zukunft hat er bereits gemacht: Min Bahadur möchte eine Art Museum bauen, gleich neben einer der Touristenattraktionen Pokharas: Devi’s Falls, dem Wasserfall. Die Besucher sollen sich darin Khagendras Spielzeug angucken können und Familienfotos, und, als lebendes Exponat, Khagendra selbst.

Fragt man Min Bahadur, ob er Khagendra einmal gefragt hätte, wie ihm ein solches Museum gefalle, sagt er nur: »Ich mache das nicht für Khagendra, ich mache das für 25 Millionen Nepalesen. Wir werden bekannt sein als das Land mit dem höchsten Berg und dem kleinsten Mann.«

Auch in Deutschland war die Idee, Menschen wegen körperlicher Sonderbarkeiten auszustellen, lange Zeit nicht so abseitig, wie sie einem jetzt erscheint: Auf Jahrmärkten wurden bis ins 20. Jahrhundert hinein sogenannte Liliputaner neben siamesischen Zwillingen und Albinos als menschliche Attraktion gezeigt. Und in gewisser Weise geschieht das heute noch, in Talkshows zum Beispiel. Immer wieder treten dort die gesichtsbehaarten Wolfsmenschen aus Mexiko auf oder Frauen mit Bart, oder einfach nur Übergewichtige. Und nur wenige Länder Europas haben bisher das sogenannte Zwergenwerfen untersagt, eine Kneipen-Sportart, die erst in den Achtzigerjahren in Australien erfunden wurde und bei der möglichst große Menschen möglichst kleine Menschen möglichst weit werfen.

Selbst Khagendra wurde schon von einem britischen Fernsehteam besucht, für eine Doku-Serie auf Channel 4, The World’s … and Me: Der kleinste Mann … die größte Frau … das fetteste Haustier der Welt und ich, heißen die Episoden der Reihe. Und auch wir hatten anfangs nur die Fotos von Khagendra gesehen und sind erst daraufhin nach Nepal gereist. Die Faszination von Körpern, die nicht der Norm entsprechen, scheint kulturübergreifend auf die Menschen einzuwirken.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Privatsphäre kennen Khagendra und seine Eltern nicht.)

Wer Khagendra besucht, den lädt die Familie in ihr Haus in Pokhara ein. Das Haus ist eigentlich gar kein Haus, sondern mehr eine Garage. Vorn, zur Straße hin, haben die Eltern einen kleinen Laden eingerichtet. Ein paar Tomaten, Chilis, fünf Stück Seife, Zigaretten. Das Geschäft läuft nicht besonders, Khagendras Vater ist kein Verkäufer. Hinter der Theke, nur durch einen Holzschrank getrennt, schläft, kocht und isst die Familie. Durch die offene Tür sieht man im Hof die Nachbarskinder spielen. Privatsphäre kennen Khagendra und seine Eltern nicht.

»Wenn Min Bahadur nicht gewesen wäre, würden wir noch immer im Dorf leben und niemand würde Khagendra kennen«, sagt der Vater über den Mann, der sie hierher geholt hat. »Uns ging es im Dorf besser, aber unser Sohn wird hier besser versorgt.«

Min Bahadur bezahlt die Miete für die Familie und dafür, dass Khagendra in die Schule gehen kann, in eine Klasse mit Vier- und Fünfjährigen. Er hat gerade gelernt, seinen Namen zu schreiben. Morgens muss die Mutter ihm helfen, das weiße Hemd der Schuluniform zuzuknöpfen, Khagendras Bewegungen sind zu ungelenk dafür. Seine Arme und Beine sind eingeknickt, er hat ein Hohlkreuz und watschelt, wenn er geht. Sein ganzer Körper wirkt so, als sei er eher zum Sitzen als zum Laufen gemacht. Auf längeren Strecken trägt ihn sein jüngerer Bruder manchmal in einem Beutel.

Was er alleine kann? Essen, Zähneputzen, T-Shirts anziehen, die Hocktoilette benutzen. Sein Haar trägt er am liebsten gescheitelt und kämmt es sich mehrmals am Tag. Wenn er Geschirr aus dem kleinen Schrank nimmt, den seine Eltern extra auf dem Boden haben stehen lassen, sieht es aus, als öffne er die Tür zu einem Schuppen.

Als er 14 Jahre alt war, wurde Khagendra zum ersten Mal von einem Arzt untersucht. Noch heute weiß keiner genau, welche Ur-sache sein Kleinwuchs hat. »Man müsste eine Chromosomen- und Hormonanalyse machen«, sagt der Arzt, der ihn nun regelmäßig betreut. »Aber das können wir in Pokhara nicht.« Er vermutet, dass Khagendra eine Fehlfunktion in der Hirnanhangdrüse hat, die das Wachstumshormon ausschüttet. In Deutschland kommt diese Form des Kleinwuchses kaum noch vor, weil man sie mit einer Hormongabe behandeln kann.

Nicht nur die körperliche, sondern auch die geistige Entwicklung Khagendras ist irgendwann stehen geblieben. Er versinkt in seinen Spielen, ist dann kaum noch ansprechbar. Fragen kann man ihm ohnehin nur mit Hilfe seiner Eltern stellen, und selbst dann hören sich die Antworten in den Mund gelegt an. Die meiste Zeit wirkt Khagendra dennoch fröhlich und zufrieden, er lacht jedenfalls viel. Mit seinen Klassenkameraden spielt er nach der Schule oft Kricket, mit einem leichten Plastikschläger und einem kleinen Plastikball. Kommen Fremde vorbei und starren ihn an, begrüßt er sie mit Handschlag. Er ist neugierig, und wenn er etwas entdeckt hat, eine Fotokamera oder ein Taschentuch zum Beispiel, prüft er es minutenlang, drückt sämtliche Knöpfe, riecht daran, befühlt die Textur. Beachtet man ihn länger nicht, springt er auf, beginnt zu singen oder zu tänzeln, er mag es, im Mittelpunkt zu stehen. Khagendra ist ein Kind im deformierten Körper eines Säuglings.

Und gerade weil er so zart und zerbrechlich ist, behandeln ihn die Menschen auch wie einen kleinen Jungen. Sein Vater schneidet ihm Grimassen, seine Mutter nimmt ihn ständig auf den Arm und seine Tante wischt ihm nach dem Essen den Mund mit einem Handtuch ab. Khagendra konnte niemals erwachsen werden – und doch soll er es nun endlich sein.

Es ist der 14. Oktober 2009. Für den großen Tag hat Min Bahadur den Konferenzraum eines Hotels gemietet. Girlanden schlackern an der Wand, auf der Bühne steht die Prominenz: ein dicker Lokalpolitiker, der Polizeichef von Pokhara, Khagendra und Min Bahadur, der vor lauter Stolz und Anspannung größer als seine 157 Zentimeter erscheint. Khagendras Eltern haben mit den anderen Gästen in der Reihe davor auf Plastikstühlen Platz genommen. Auch ein paar Fotografen und Journalisten sind zur Feier angereist, bis auf den Reporter aus Deutschland alles Nepalesen, hier, in ihrem Land, ist Khagendra bereits bekannt. Reden werden gehalten, Hände geschüttelt. Das Ganze ist so locker wie das Jubiläumsfest eines Partei-Ortsvereins.

Für die Pressefotos wird Khagendra dann vor eine Torte gesetzt, eine Torte mit einer Kerze drauf, die wie eine 18 aussieht. Später soll er noch tanzen, mit der kleinsten Frau Nepals, 81 Zentimeter groß, die Min Bahadur zum Geburtstag eingeladen hat. Die Bilder gehen um die Welt, ein paar Tage später kann man sie auch in deutschen Zeitungen sehen, und die Nachricht, dass er endlich volljährig geworden ist, steht sogar in der New York Times.

Volljährig geworden sein soll, muss man sagen.
Denn kurz vor dem Ende, als eigentlich nichts mehr schiefgehen kann, verteilt Min Bahadur ein Magazin, eine Art Informationsbroschüre seiner Stiftung, die er zur Unterstützung Khagendras gegründet hat. Darin abgedruckt ist auch die Geburtsurkunde seines Schützlings. »Sie müssen wissen«, sagt ein nepalesischer Reporter, »in Nepal zählen wir anders. Wenn ein Kind zur Welt kommt, sagen wir, es ist schon eins, weil es ja gerade sein erstes Lebensjahr beginnt.«

Khagendra Thapa Magar wurde am 14. Oktober 1992 geboren, und in unserem Verständnis und auch im Verständnis des Guinness-Buchs der Rekorde ist er damit heute 17 Jahre alt.

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Als die Fotos vom kleinwüchsigen Khagendra bei der Themenkonferenz des SZ-Magazins das erste Mal auf dem Tisch lagen, waren wir einerseits fasziniert von der ungewöhnlichen Gestalt des jungen Nepalesen, gleichzeitig fragten wir uns aber: Dürfen wir das? Einen Menschen auf Fotos zeigen und über ihn schreiben, nur weil er körperlich behindert ist? Ja, meinen wir, denn Körper, die nicht der Norm entsprechen, interessieren nun einmal, wie Christoph Cadenbach in seinem Text beschreibt. Wie lebt so ein Mensch, wie sieht sein Alltag aus? Die Frage muss am Ende wohl nicht lauten, ob man hinsieht, sondern wie man hinsieht.