Der dreißigste Tote

Patrick Behlke war 25, als er durch einen Selbstmordattentäter starb. Er ist der dreißigste Tote der Bundeswehr im Afghanistan-Einsatz. Zum ersten Mal sprechen deutsche Politiker von einem "Gefallenen". Das ist seine Geschichte.

(Im Bild: Patrick Behlke, Scharfschütze bei den Fallschirmspringern)

Sylvia Behlke zerfraß es fast vor Sorge. Im September war ihr ältester Sohn nach Afghanistan aufgebrochen. Dass er sich fast jeden Tag übers Internet meldete, machte sie nur noch misstrauischer. »Es ist doch so«, sagt sie: »Wenn man nichts von den Gören hört, ist gut.« Er schrieb, dass die Kameraden ihm zum 25. Geburtstag einen Erdbeerkuchen geschenkt hatten, beiläufig, fast flapsig klangen seine Nachrichten. Selbst wenn er von Raketenangriffen auf das Lager in Kundus berichtete: »Du hörst es zischen. Du hast eine halbe Minute, um in den Bunker zu rennen.« Dann kam der 20. Oktober, ein Montag: Gegen Mittag meldete der Sender N24, dass bei einem Attentat nahe der Stadt Kundus zwei deutsche Soldaten getötet worden seien. Sylvia Behlke wurde noch nervöser. Ihr Sohn hatte zwar erklärt, dass sie nicht auf die Nachrichten hören solle: Wäre ihm tatsächlich etwas passiert, hätten ihr längst zwei Männer von der Bundeswehr die Nachricht von seinem Tod überbracht. Trotzdem rief sie beim Familienbetreuungszentrum der Bundeswehr in Berlin an. »Ihr Sohn ist nicht dabei«, hieß es dort. Da war sie endlich einmal beruhigt.

Sylvia Behlke sitzt im Wohnzimmer ihres Holzhauses. Sie ist eine hübsche Frau mit schulterlangen Haaren. Über die Gefahren seines Berufs habe sie kaum mit dem Sohn gesprochen. Einmal sagte er: »Wenn was passiert, dann hoffentlich richtig.« Sie antwortete: »Du erzählst ein Zeug. Da kann ich drauf verzichten!«

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Im August kam ein Bekannter aus seiner Kompanie in Afghanistan um. Patrick Behlke fuhr zum Bundeswehrflugplatz in Köln-Wahn, wo der Leichnam ankam. Da sagte Sylvia Behlke: »Jetzt holst du den ab. Und wer ist der Nächste?« Patrick Behlke antwortete: »Dafür sind wir Soldaten.«

Am 20. Oktober ist Sylvia Behlke dann mit dem Hund spazieren gegangen. Als sie zurückkam, sah sie zwei uniformierte Männer vor ihrer Tür stehen. Sie hat nur noch losgeschrien. »Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!«

Patrick Schäfer balanciert einen Kaffee durch das Unteroffizierskasino in der Kaserne Lager Heuberg auf der Schwäbischen Alb. Ihm stehen Tränen in den Augen. »Ich hab ja mehr Zeit mit Patrick verbracht als mit meiner Lebensgefährtin.« Mit seinen längeren schwarzen Haaren sieht Schäfer aus, als habe er sich in die gefleckte Tarnuniform verirrt. An seiner rechten Hüfte baumelt eine Pistole. Schäfer teilte sich mit Patrick Behlke die Stube in der Kaserne. Sie fuhren zum Snowboarden und gingen zusammen essen, meistens mongolisch. »Patrick war schon ganz neugierig auf Kundus«, sagt Schäfer. »Eine Armee lebt von ihren Erfahrun-gen, die macht man nur im Einsatz.«

Patrick Schäfer hat seinem Freund zwei Bücher über Afghanistan geliehen: Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen und Tee mit dem Teufel, vom ehemaligen deutschen Militärarzt Reinhard Erös. Und am Abreisetag kam er nachts um vier mit zum Bus. Er nahm Patrick Behlke in den Arm und sagte: »Und immer die Schutzbrille auflassen, ja?« Der Freund nickte lächelnd, es war ein milder Spätsommermorgen, es herrschte eine Stimmung »wie bei einem außergewöhnlichen Betriebsausflug«, erzählt Schäfer.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Rot bedeutet »Krieg«. Ein Begriff, der in der deutschen Öffentlichkeit tabu ist. Genauso wie für viele das Wort »gefallen«.)

(Auf Patrouille in Afghanistan. sonst durften Patrick Behlke (vorn) und seine Kameraden ihr Lager in Kundus aus Angst vor Anschlägen nicht mehr verlassen.)

Dabei ging es für die 85 Fallschirmjäger des Bataillons 263 aus Zweibrücken zu einem der gefährlichsten Einsätze der Bundeswehr. Aufständische beschossen immer häufiger das Lager der Deutschen in Kundus, die Fallschirmjäger sollten es verteidigen. In aller Eile waren sie dafür zusammengezogen worden.

Zur Vorbereitung gehörte die Unterrichtseinheit »Tod und Verwundung«; die Soldaten werden dabei auch aufgefordert, ihr Testament zu machen. Der Tod, von seiner praktischen Seite. Es war in der Woche vor der Abreise, hier im Unteroffizierskasino des Lagers Heuberg, als Patrick Schäfer und Patrick Behlke noch einmal auf das Thema zu sprechen kamen. Schäfer sagte: »Besser, es ist gleich vorbei als schwer verbrannt.« Behlke antwortete diesmal: »Wer weiß, wie man das in der Situation sieht.« Er hat kein Testament geschrieben.

Der Ernstfall ist in der Bundeswehr noch immer vor allem ein Gedankenspiel. Ihre Kultur ist davon geprägt, dass sie jahrzehntelang mit Übungsmunition schoss. Auf ihren ersten Auslandseinsätzen hatte sie höchstens mit Eheproblemen der Soldaten zu kämpfen. In Bosnien und im Kosovo patrouillierten sie durch einen jungen Frieden. Afghanistan ist auf der Karte des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung rot markiert. Rot bedeutet »Krieg«. Ein Begriff, der in der deutschen Öffentlichkeit tabu ist. Genauso wie für viele das Wort »gefallen«.

Doch im zunehmend instabilen Norden Afghanistans geraten die Soldaten in Schusswechsel; Aufständische legen Sprengfallen. Um Masar-e-Scharif, Faisabad und besonders Kundus wird der Ernstfall auch in der Bundeswehr normal. Stabsunteroffizier Patrick Behlke, umgekommen am 20. Oktober 2008 gegen 13 Uhr Ortszeit im Dorf Hadschi Amanullah durch ein Selbstmordattentat, ist der dreißigste getötete deutsche Soldat in Afghanistan, seitdem die Bundeswehr vor sieben Jahren ihren Einsatz dort begann.

In Brandenburg, wo Patrick Behlke herkam, ist das Land flach, und die Bevölkerung lehnt den Kampfeinsatz Deutschlands in Umfragen besonders stark ab. Behlke war dort Jugendmeister im Mountainbike-Fahren, was mit der Landschaft schwer vereinbar scheint. »Was glauben Sie, was es in unseren Wäldern für Berge gibt!«, sagt Hans-Jürgen Geschke, der ihn trainierte.

Geschke hat ein kleines Fahrradgeschäft in Wandlitz, wo Honecker wohnte. »Mit Rad und Tat vom Weltmeister« steht über der Tür – Geschke war 1969, 1971 und 1977 Weltmeister im Bahnradfahren. »Diese Kriegstreiberei!«, sagt er, erschüttert durch den Tod seines Schülers am anderen Ende der Welt. »Patrick war ruhig, bescheiden und hat immer seine Leistung gebracht. Morgens um fünf saß er allein mit seinem Rad im Zug nach Senftenberg, damit er pünktlich am Start stand.«

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Er lebte in der Kaserne, schlief im dreigeschossigen Stockbett ganz oben. An der Wand hatte er eine Karte von Kinshasa aufgehängt.)

(Die Familie Behlke vor ihrem Haus in Danewitz, kurz nach Patricks Tod.)

Patrick Behlke wuchs im Nachbardorf Danewitz auf. Ein unerschrockener Junge, der nachts allein zum Angeln ging und mit dem Fahrrad so schnell den Berg hinunterraste, dass es einmal in der Mitte durchbrach. Über den Sport kam er zur Bundeswehr: Nach einer Gartenbaulehre verpflichtete er sich für acht Jahre bei den Fallschirmjägern in Zweibrücken. Die Eltern bestärkten ihn nicht darin, hielten ihn aber auch nicht davon ab.

Der Vater hatte sich durch seinen Wehrdienst bei der NVA gequält, heute verkauft er Holzfertighäuser nach Afrika. Beim Sohn spürte er, dass die Armee ihm Selbstbewusstsein gab. Patrick Behlke wurde als Scharfschütze ausgewählt, die unter den Zweibrücker Soldaten viel gelten. Mit schwerem Gepäck ziehen sie los, wenn die anderen noch in den Kasernen sitzen. Sie haben einen Klappspaten dabei, mit dem sie Löcher graben. Darin harren sie oft tagelang aneinandergedrängt aus.

Wenn sie so im Dreck lagen, berichten die Kameraden, habe Behlke »gemotzt«. Wie sie alle motzen in solchen Situationen. Dann lachen sie darüber und helfen sich so gegenseitig über ihren toten Punkt hinweg. Ernsthaft beschwert hat Behlke sich nie. Er suchte die Selbstüberwindung, am Wochenende bei Marathonläufen oder 100-Kilometer-Märschen. Die, die ihn näher kannten, beschreiben ihn als guten Kumpel, verlässlich, unternehmungslustig.

Er lebte in der Kaserne, schlief im dreigeschossigen Stockbett ganz oben. An der Wand hatte er eine Karte von Kinshasa aufgehängt. Dort war er vor zwei Jahren auf seinem ersten Auslandseinsatz, zusammen mit Patrick Schäfer.

In Kinshasa sind sie bloß ein paar Mal mit Steinen beworfen worden. In Kundus gibt es in der Nähe des Lagers einen Hügel, den die Soldaten »Raketenhügel« nennen, weil sie von dort ständig beschossen werden. Und im Lager selbst mahnen ein paar Autowracks, die in Sprengfallen oder unter Beschuss geraten sind, an die Gefahren draußen. Behlke habe am Telefon angespannt gewirkt, sagt Schäfer.

Holger Bonnen war im September ebenfalls in Kundus. Bonnen ist Kommandeur der Zweibrücker Fallschirmjäger. Ein muskulöser Mann mit nur noch wenigen Haaren, der mit verschränkten Armen im Offizierskasino in Zweibrücken sitzt.

Bonnen beschreibt das Lager Kundus als ein schwer befestigtes Dorf auf einer staubigen Ebene. Drum herum zwei Betonmauern, ein Bunker, ein Gemeinschaftshaus namens Lummerland, in dem es Pizza gibt. Die Joggingrunde entlang der inneren Mauer ist 3000 Meter lang. Die Fallschirmjäger sind in Zehn-Mann-Zelten untergebracht, jedes umgeben von einem Schotterwall, der Raketensplitter abhalten soll. In einem der Zelte hat Holger Bonnen dem Verstärkungstrupp mit Patrick Behlke gleich nach der Ankunft erklärt, was auf sie zukommt.

Im Monat zuvor waren zwei Männer des Bataillons schwer verletzt und einer getötet worden. Deshalb ist Bonnen nach Afghanistan gefahren. »Ich wollte sehen, wie die ausgefallenen Soldaten zu ersetzen sind.« Das klingt technokratisch, ist aber vor allem unbeholfen: Wie soll man über den Tod reden, wenn er eigentlich nicht sein darf? Der Umgang der Deutschen mit ihrem Militär steckt voller Widersprüche, die Öffentlichkeit akzeptiert eine Armee, aber töten und getötet werden sollen die Soldaten nicht; die Politik weiß, wie gefährlich die Lage in Afghanistan tatsächlich ist, spricht es aber nicht aus. »Die Bundeswehr soll schützen, helfen – auch kämpfen«, sagt Bonnen, »die US-Armee hat ein anderes Selbstverständnis: to win the war. Die führen Krieg!« Die Amerikaner haben in Afghanistan bereits mehr als 600 Soldaten verloren. Das Sterben ist Teil ihres Alltags.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Explosion riss Stöth um. Als er vom brennenden Wagen sprang, sah er die Leichen von fünf Kindern, die in der Nähe gespielt hatten. Dort, wo die Kameraden standen, war schwerer, schwarzer Rauch.)

In der Bundeswehr dagegen ist jeder einzelne Fall eine Katastrophe. Bonnen beschreibt es als »Schlag in die Magengrube«, wenn das Einsatzführungskommando ihm mitteilt, dass einem seiner Soldaten etwas passiert ist. Die tiefe Betroffenheit ist ihm anzumerken. Das ist sympathisch, zeigt aber, wie die Bundeswehr mit ihrer neuen Rolle noch hadert. Die Aufgaben, die sie übernimmt, werden immer riskanter. Seit Juli führt sie die Schnelle Eingreiftruppe im Norden Afghanistans an, die in besonders gefährlichen Gebieten eingesetzt wird. Auch auf den regulären Patrouillen um Kundus werde es oft »brenzlig«, sagt Bonnen. Präziser wird er nicht. »Der Adrenalinspiegel der Soldaten war jedenfalls hoch.

«Patrick Behlke hat auf seinem Laptop eine Reihe von Zwischenfällen notiert. Unter dem Datum 18.9. schreibt er zum Beispiel: »Angriff auf Spähtrupp/Feuer erwidert/3 tote Zivilisten«, unter dem 22.9.: »Autobomber sprengt sich in Patrouille in die Luft. Hund klaut Bein von Selbstmordattentäter«, und tags darauf: »Nachts Spähtrupp/sind mit AK [dem alten russischen Sturmgewehr, Anm. der Redaktion] angeschossen worden.« Ein merkwürdig karges Prototoll: der Versuch, seine Angst zu bewältigen?

Daniel Stöth teilte in Kundus mit Behlke ein Zelt. Ins Zweibrücker Offiziersheim wird er heute von einem Dutzend Kameraden begleitet. »Ein bisschen Beistand«, sagt der Presseoffizier, doch Stöth braucht keinen Beistand. Er erzählt, wie Patrick Behlke und er in ihrer freien Zeit im Lager Volleyball spielten oder sich die Sitcoms Stromberg und Mein neuer Freund mit Christian Ulmen auf DVD ansahen. Abends spielte Behlke oft auf dem Computer Poker gegen sich selbst und hörte dazu Musik von Johnny Cash. Jede zweite Nacht ging es auf Patrouille. Dann liefen sie teils zu Fuß durch die Dörfer, um Aufständische beim Abschießen von Raketen zu stellen. »Wir fühlten uns sicher«, sagt Daniel Stöth und lacht freundlich. Ihm fehlen ein paar Zähne, beim tödlichen Anschlag stand er nur einige Meter von Patrick Behlke entfernt.

Um vier Uhr morgens waren sie losgefahren. 160 deutsche Soldaten und 50 afghanische Soldaten und Polizisten, die nach Raketen suchen sollten. Es ging fünf Kilometer nach Südwesten, über den Fluss Kundus, hinüber zu einem Dorf, vor dessen Eingang Stöth, Behlke und sechs andere einen Kontrollpunkt errichteten. Ein paar Bauern kamen vorbei, die ihr Vieh auf die Felder trieben. Gegen ein Uhr mittags sah Stöth, der am Maschinen-gewehr auf einem Truppentransporter stand, einen jungen Mann heranradeln. Behlke und ein Kamerad gingen auf ihn zu, um ihn zu durchsuchen.

Die Explosion riss Stöth um. Als er vom brennenden Wagen sprang, sah er die Leichen von fünf Kindern, die in der Nähe gespielt hatten. Dort, wo die Kameraden standen, war schwerer, schwarzer Rauch. Da wusste er, dass sie tot sein mussten. »Ich hatte nichts außer einem Granatsplitter im Kiefer«, sagt Daniel Stöth, lächelt wieder, er ist erstaunlich gefasst. Was war der schlimmste Moment? »Vor Patrick Behlkes Eltern zu stehen.«

Die Gesandten der Bundeswehr, die die Todesnachricht überbrachten, haben die Eltern gleich wieder weggeschickt. Sylvia Behlke hat ihre beiden anderen Kinder angerufen und ihre Mutter. Abends saßen alle gemeinsam im Wohnzimmer, »wollten sich die Kante geben«, sagt sie, doch der Alkohol wirkte nicht. Immer wieder ging Sylvia Behlke zum Computer, um zu sehen, ob Patrick sich nicht doch meldet.

Tags darauf schickte die Bundeswehr einen Psychologen, am Ende der Woche trafen die Behlkes vor der Trauerfeier Verteidigungsminister Franz Josef Jung. In seiner Rede sprach er anschließend zum ersten Mal von »gefallenen Soldaten«; vor ein paar Wochen hat Jung den Grundstein für ein Ehrenmal für alle getöteten Soldaten der Bundeswehr gelegt. Zwei weitere symbolische Schritte hin zu einer normalen Armee. Doch das Ehrenmal liegt versteckt im Hof des Verteidigungsministeriums. Es wird die Inschrift tragen: »Den Toten unserer Bundeswehr – Für Frieden, Recht und Freiheit.« Worte, die einem viel zu frühen Tod einen Sinn geben sollen.

Die Behlkes können wenig mit diesen Worten anfangen. »Ist doch völlig unklar, welches Ziel die Bundeswehr in Afghanistan genau verfolgt«, sagt Patricks Vater, Michael Behlke. Er ist wütend auf die Bundeswehr. Der Sohn habe sich seine Schutzbrille, den Gehörschutz und sogar das GPS-Gerät selbst kaufen müssen. Die Bundeswehrbrille beschlage schnell, das GPS der Armee funktioniere gar nicht in Afghanistan.

Sylvia Behlke hat wieder zu arbeiten begonnen, bei Rewe an der Kasse, um sich abzulenken. Michael Behlke hat in den vergangenen Wochen viele Interviews gegeben, um die mangelhafte Ausrüstung der Bundeswehr anzuprangern. »Vielleicht hilft es den anderen Soldaten«, sagt er. Es ist sein Versuch, dem Tod des Sohnes einen Sinn zu geben.

Fotos: Fabian Zapatka und privat