Denke ich an die Polizei, höre ich dieses Knattern. Fein, gleichmäßig und leise, ein Knattern, das auch bei höherer Beschleunigung kaum lauter wurde. Ein Knattern, wie es nur eine MZ von sich geben konnte, die Königin unter den Motorrädern im Osten. Die Mopeds, Star und Schwalbe, Spatz und Sperber, ratterten und knarrten wie die Fließbänder, an denen ihre Besitzer unter der Woche schufteten. Eine MZ war anders. Sie bewegte sich sogar über unsere schlaglöchrigen Straßen wie eine Adlige. Ein standesgemäßes Gefährt für einen Polizisten. Und für seine Kinder. An den Wochenenden, wenn sich unser Revierpolizist Jörg zur Mittagsruhe hin- gelegt hatte, dauerte es nur zehn Minuten, bis die MZ Laut gab. Seine beiden Söhne kamen. Wir anderen warteten auf den Mopeds unserer Väter am Dorfplatz. Wir jagten die Kopfsteinpflasterstraßen entlang, in Richtung Wald, über die frisch gemähten Brandenburger Felder, an den Kühen vorbei. Ohne Helm, ohne Fahrerlaubnis. Der Fahrtwind ließ unsere viel zu weiten Wendejahre-T-Shirts flattern. In der Nase den Geruch von Mais oder Kartoffeln. Wir spielten Easy Rider, ohne den Film gesehen zu haben. Immer waren wir in unserer Fantasie auf der Flucht vor der Polizei, also vor Jörg. Heute weiß ich, dass Jörg sehr wohl wusste, was wir machten. Er drückte ein Auge zu, wie so oft. Das war seine Art als Polizist. Dorfgemeinschaften sind ein kom-plexes Gebilde. Sie können sich schützend um den Einzelnen legen wie ein warmer Mantel. Sie können aber auch rau und unbarmherzig sein, verschlossen und abweisend. Jörg wusste das. Vielleicht fürchtete er sich mehr vor den Nachbarn als vor den Kriminellen. Er war im Dorf aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. Er hatte als Kind den gleichen Unsinn gemacht, im selben See gebadet und als Halbstarker dann die gleichen Mädchen angeschmachtet. Aber nur er wurde Volkspolizist. Die anderen gingen zur LPG, als Traktorist, Maurer oder Schlosser. Manchmal zogen sie ihn auf, nannten ihn »Oberwachtmeister« oder »Herr Polizist«. Sein Beruf unterschied ihn von den anderen und stellte ihn vor große innere Konflikte. Eines Sommers erschütterte eine Brandserie unsere Region. Strohmieten, Kuhställe und Häuser gingen in Flammen auf. Jörg hielt mit anderen Polizisten nächtelang Wache bei den Bauern. Er war es, der dem Täter auf die Spur kam. Die ganze Zeit hatte er einen Verdacht gehabt, der ihm die Kehle zuschnürte. Als der Verdacht Gewissheit wurde, musste er doch sprechen. Es war der Sohn seines bestenFreundes. Darüber hinwegzusehen war unmöglich. In anderen Fällen war es möglich. Mein Vater war Anfang der Neunzigerjahre Bürgermeister. Ihn und einige Amtskollegen eskortierte Jörg einmal nach Hause, sehr spät in der Nacht. Er vorneweg mit Blaulicht, mein Vater und die anderen dahinter in separaten Autos. Zu Hause angekommen, konnte Papa kaum aussteigen. Auf der Versammlung hatte es nicht nur Wasser zu trinken gegeben. Nie im Leben hätte er noch fahren dürfen. Und als dorfbekannte Sozialhilfeempfänger in einen Großhandel einbrachen, beschlagnahmte Jörg zwar die Beute, aber eben nicht komplett, er tat so, als hätte er die gestohlene Tiernahrung im Haus der Täter übersehen. Oft großzügig, immer loyal. Die Leute mochten Jörg, weil er ein guter Polizist war. Sie mochten ihn, obwohl er Polizist war. Wer das Gesetz dehnt, verliert irgendwann das Gefühl für Recht und Unrecht. Der Grad zu Korruption und Vorteilsnahme ist schmal. Erntehelfer erzählten sich, für zwanzig Mark sähe Jörg über Mängel an Lastwagen, Traktoren oder anderen Fahrzeugen hinweg. Irgendwann tauchte Jörg sogar in einer Boulevardzeitung auf den vorderen Seiten auf. In der Kreisstadt hatte er eine alte Frau beim Überqueren der Straße angehalten und zwanzig Euro Bußgeld gefordert, weil sie zu langsam gelaufen sei. Die Frau hatte noch Tränen in den Augen, sie kam von einer Beerdigung. Danach tauchte Jörg immer seltener im Dienst auf, offiziell war er krankgeschrieben, bald schied er aus. Heute arbeitet Jörg für eine Sicherheitsfirma und lebt allein. Frau und Kinder sind weg. Das Haus verlässt er kaum, im Dorf sieht man ihn selten. Ein Nachbar kann Polizist werden. Aber vielleicht kann ein Polizist nie wieder Nachbar werden. Die MZ ist längst verschrottet.