Und plötzlich war er tot

Natalie und Josef Karl geben ihr 13 Monate altes Kind zu einer Tagesmutter. Vier Wochen geht alles gut, dann muss der kleine Christopher ins Krankenhaus. Bis zum nächsten Morgen hoffen die Eltern, dass ihr Sohn überlebt. Vergeblich. Die Anatomie einer Geschichte, in der es nur Verlierer gibt.

Juni 2009

Es ist nur ein Moment, ein paar Sekunden vielleicht, in denen Alexandra S. ihr Leben entgleitet: Weil Christopher schreit, hebt sie ihn aus dem Reisebettchen. Dann schüttelt sie den Jungen. Zwei Mal. Christophers Kopf fliegt vor und zurück. Der Staatsanwalt im Münchner Landgericht demonstriert noch einmal die Armbewegung. Vor und zurück, »ruckartig und heftig«. Dann sagt er: »Frau S., das Opfer war Ihnen völlig schutz- und wehrlos ausgeliefert. Würde man diesen Fall auf einen Erwachsenen übertragen, müsste ein vier Meter großer Riese einen Erwachsenen schütteln.« Am Ende seines Plädoyers fordert der Staatsanwalt sechs Jahre Haft. Alexandra S., Tagesmutter von Beruf, zwei eigene Töchter, alleinerziehend, steht regungslos da. Das dunkle Haar ist ihr seitlich ins Gesicht gefallen, ihre Augen starren, ohne etwas zu fixieren. Sie habe ein »ordentliches Leben« geführt und sei mit den anderen Kindern immer »vorbildlich umgegangen«, argumentiert ihr Verteidiger. Auch habe sie sofort gestanden, den 14 Monate alten Jungen geschüttelt zu haben. Dann führen zwei Beamte Alexandra S. aus dem Saal. Morgen wird sie noch einmal hier stehen. Morgen werden auch die Eltern des toten Christopher da sein, Natalie und Josef Karl, um das Urteil des Richters zu hören.

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September 2008

Die Karls

Warm liegt der Spätsommer an diesem Morgen über der Stadt, 25 Grad sollen es werden, ein schöner Tag für den Start in ein neues Leben. Natalie Karl wartet auf die Trambahn. Sie hat ein gutes Gefühl. Die Tagesmutter klang freundlich am Telefon. Nicht so »schroff« wie die anderen, die sie gar nicht erst ausreden ließen, sondern gleich sagten, sie hätten keinen Platz mehr frei. Seit Monaten hören Natalie und ihr Mann Josef nun diesen Satz. Bei elf Kinderkrippen haben sie gefragt, elf Absagen kassiert.

Einige Erzieherinnen lachten sie regelrecht aus, dass sie sich erst jetzt, als Christopher schon auf der Welt war, um einen Platz bewarben. Doch nach über einem Jahr zu Hause möchte die 30-jährige Übersetzerin wieder unter Menschen kommen und Geld verdienen. In ihrer Wohnung in München-Harlaching ist kein Platz für ein Kinderzimmer, die Karls wollen vielleicht eine Eigentumswohnung kaufen, weiterhin in den Urlaub fahren. Ein Einkommen reicht dafür nicht aus.

Josef, 34, arbeitet seit zehn Jahren als Diplomdesigner für einen Münchner Verlag. Er gestaltet Glückwunschkarten, auf einer sind Babyfüße zu sehen, Christophers Füße. Jeden Tag hat Josef ein Bild von seinem Sohn gemacht und die Fotos in einem Buch gesammelt. »Christopher war der Mittelpunkt unseres Lebens«, sagt Josef, »wir wollten ihm alles bieten, perfekte Eltern sein.«

An der Haltestelle »Ostfriedhof« steigt Natalie aus der Trambahn. Das Jugendamt hatte ihnen erklärt, dass es in München nur für jedes vierte Kleinkind einen Betreuungsplatz gibt. Krippen seien am gefragtesten, sie sollten es bei einer Tagesmutter probieren. Die erste Zusage erhielten sie von Alexandra S., heute will Natalie sie kennenlernen. Vor ein paar Tagen war sie schon einmal in der Gegend, zusammen mit Josef und seinen Eltern. Sie wollten das Grab von Rudolph Moshammer besuchen. Während sie über den Ostfriedhof schlenderten, redete Josefs Vater über Leben und Tod und dass er mit seinen 71 Jahren wohl der Nächste sein werde, »der zur Ruhe kommt«. Niemand konnte sich vorstellen, dass sie in vier Wochen den Jüngsten, Christopher, hier beerdigen müssten.

Alexandra S.

Alexandra zeigt Natalie ihre Wohnung. Im Zimmer ihrer jüngeren Tochter Mayra sitzen schon die anderen beiden Pflegekinder um einen kleinen Holztisch herum und essen Birnenschnitze, in der Küche riecht es bereits nach Mittagessen. Alexandra kocht immer morgens, damit sie möglichst viel Zeit mit den Kindern auf dem Spielplatz verbringen kann, erklärt sie Natalie. Mittags kämen sie dann schön hungrig und müde zurück und schliefen nach dem Essen auf kleinen Matratzen. Außerdem gebe es noch ein Reisebettchen, darin könne Christopher schlafen, weil er der Kleinste sei. Alexandra kennt die Sorgen der Eltern, wenn sie ihr Kind das erste Mal in fremde Obhut geben.

Seit drei Jahren arbeitet sie als Tagesmutter und hat selbst zwei Töchter. Von den Vätern der beiden lebt sie getrennt. Patrizia ist zwölf, Mayra sechs Jahre alt. Nach einem anstrengenden Babyjahr, in dem Mayra ununterbrochen schrie, stellte sich heraus, dass sie an einer seltenen Form der Epilepsie leidet. Immer wieder musste Alexandra mit ihr ins Krankenhaus, damit die Ärzte die Medikamente richtig einstellen konnten. Früher hatte sie mal als Verkäuferin in einer Tankstelle, mal in einer Bäckerei gejobbt, sie war da nicht wählerisch, Hauptsache, eigenes Geld verdienen, doch als alleinerziehende Mutter konnte sie viele Stellen nicht mehr annehmen. Die Arbeit als Tagesmutter war die Lösung: Alexandra hatte gern kleine Kinder um sich, und sie würde sich jederzeit um ihre Töchter kümmern können.

Den Anforderungen des Münchner Ju-gendamts entsprechend absolvierte sie 115 Unterrichtsstunden zur Grund- und Aufbauqualifizierung. Ihre pädagogischen Fähigkeiten, ihre Belastbarkeit, ihre Sprachkenntnisse – alles wurde überprüft, auch ihre Wohnung. Die Zimmer ihrer beiden Töchter sind groß und mit Hochbetten und Sofas eingerichtet, Alexandras eigenes Schlafzimmer hat die Größe einer Kammer. Immer wenn sie es sich leisten konnte, ist sie mit Patrizia und Mayra in den Urlaub gefahren, erst Anfang August waren sie in der Türkei. Ein Foto zeigt Alexandra lachend am Strand. Zehn Monate später wird es in der Bild am Sonntag zu sehen sein.

Die Eingewöhnung

Die ersten Tage schreit Christopher, sobald seine Mutter den Raum verlässt, doch an Alexandra, da ist Natalie sich sicher, liegt das nicht. Ihr gefällt die natürliche, selbstverständliche Art der Tagesmutter. Und Christopher ist es einfach nicht gewohnt, von seiner Mutter getrennt zu sein. Bisher ging das nur bei ihren Eltern gut, die sie im August in der Ukraine besuchte. Christopher schlief seelenruhig bei seinem Opa im Bett, der ihm abends Volkslieder vorsang. Einmal im Jahr kommen Natalies Eltern nach Deutschland.

Ihre Tochter war mit 21 Jahren als Au-pair-Mädchen nach München gegangen, studierte dann Deutsch und Englisch am Fremdspracheninstitut, und als ihre Aufenthaltsgenehmigung auslief, heiratete sie Josef. Seine Eltern waren von »der Russin« anfangs nicht begeistert. Ihr jüngster Sohn hatte als einziges von drei Geschwistern Vohenstrauß in der Oberpfalz verlassen und war nach München zum Studieren gezogen. Eigentlich hätte er Pfarrer werden sollen.Kennengelernt haben sich Josef und Natalie am 2. Februar 2002.

Ein Freund hatte Josef die Telefonnummer und ein Foto von Natalie zugesteckt, Josef fackelte nicht lange: Er lud Natalie zu einem Spaziergang am Starnberger See ein, steckte sich eine Piccolo-Flasche Champagner in die Jacke, und als er sie am Bahnhof zum ersten Mal sah, war ihm klar: Das ist die Frau fürs Leben. Auf einer Parkbank am Wasser öffnete er den Champagner. »Den Korken bewahren wir auf und zeigen ihn unseren Kindern«, sagte er zu ihr. Zwei Jahre später heirateten sie standesamtlich, 2005 holten sie die kirchliche Hochzeit nach. In einer Pferdekutsche fuhren sie nach der Trauung durch die Weinberge Südtirols. Am 16. Juli 2007 wurde ihr Sohn geboren. Sie nannten ihn Christopher, nach dem Schutzpatron der Piloten – Natalies Vater war Pilot. Außerdem sollte der Junge »einmal die Welt entdecken«: wie Christopher Kolumbus.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Als sich Josef von Christopher verabschiedet, krallt der sich an seiner Hose fest. »Als ob er mir sagen wollte: Bleib, Papa, ich will nicht zu dieser Frau«, sagt Josef heute.)

Der Stress

»Alles ist gut«, beruhigt Alexandra Natalie am Telefon. »Bleib ruhig noch ein bisschen fort.« Christopher ist jetzt stundenweise allein bei ihr, er schreit viel, doch die Eingewöhnung eines neuen Kindes ist immer eine Prüfung, da die Kleinen sich an die fremden Regeln gewöhnen müssen, Alexandra weiß das. Nur fühlt sich die Tagesmutter in letzter Zeit gestresster vom Kochen, Windelnwechseln, Trösten und Spielen als sonst.

Alexandra hat Ärger im Haus: Eine Nachbarin beschwert sich ständig über die Kinderwagen im Flur oder klopft mit dem Besenstiel an die Decke, wenn die Kinder Krach machen. Für Alexandra wäre es eine Katastrophe, die Wohnung zu verlieren. Gerade ihre Tochter Patrizia sagt immer, wie glücklich sie hier sei. Auch Mayra macht Alexandra Sorgen: Bis vor Kurzem schlief sie im Kindergarten über Mittag und hielt ihre Mutter dann bis 23 Uhr auf Trab. Nun schläft sie im Kindergarten nicht mehr, kehrt dafür aber müde nach Hause zurück. Wenn dann noch die Medikamente gegen Epilepsie auf ihre Stimmung drücken, wird es schwierig mit ihr. Sie kann sehr dickköpfig sein, »ein rechter Büffel«, wie Alexandras Vater sagt. An den letzten Abenden ist Alexandra gegen acht ins Bett gefallen. »Weil ich einfach nichts mehr hören und nichts mehr sehen wollte«, sagt sie später.

Schon als junges Mädchen hat Alexandra gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Ihre Eltern trennten sich, da war sie sieben. Alexandra blieb mit ihrer älteren Halbschwester bei der Mutter im Münchner Stadtteil Au, doch es gab viel Streit. Die Schwester zog mit 18 aus, brach den Kontakt zur Mutter ab, ein Jahr später holte sie Alexandra zu sich, die war damals zwölf. Mit 13 ging »die Alex« dann zum Vater, der in München als Dreher bei BMW arbeitete.

Alexandra machte ihren Hauptschulabschluss, ließ sich zur Hotelfachfrau ausbilden. Mit 19 zog sie aus, mit 21 erzählte sie ihrer Halbschwester, dass sie schwanger sei, »ein Wunschkind«, Patrizia, vom Vater trennte sie sich bald. Alexandra jobbte, ohne großes berufliches Ziel, kümmerte sich um ihre Tochter, wollte vor allem eine bessere Mutter sein, als die eigene es war. Auch Mayras Vater entpuppte sich dann nicht als der Richtige. Aber Alexandra war es gewohnt, allein zu kämpfen.

Im psychiatrischen Gutachten über Alexandra S., das vor Gericht verlesen wurde, heißt es: »Ihre Geradlinigkeit, ihre Offenheit, ihre empathischen Qualitäten sind gute Voraussetzungen für tragfähige zwischenmenschliche Beziehungen. Sie neigt aber zur Selbstüberschätzung.«

Der letzte Morgen

An diesem Donnerstag wollen Natalie und Josef es noch einmal probieren. Gestern hatte Christopher zum ersten Mal bei der Tagesmutter über Mittag schlafen sollen, doch als Natalie ihren Sohn abholte, war er verheult und hing ihr müde im Arm. Er habe die ganze Zeit geschrien, erzählte Alexandra. »Warum hast du ihn nicht hochgenommen oder gestreichelt?«, fragte Natalie verärgert. »Christopher muss lernen, allein zu schlafen«, antwortete Alexandra.

Abends hatten Natalie und Josef diskutiert, ob sie die Betreuung abbrechen sollten. Doch ihr Sohn war die ganze Woche anhänglich und weinerlich gewesen, wegen der Masernimpfung, die er bekommen hatte, also einigten sie sich darauf, den heutigen Tag abzuwarten.

Um 6.30 Uhr steht Josef auf. Der Vater löffelt eine Schüssel Müsli zum Frühstück, der Sohn kriegt ein paar Honigkugeln ab. Als sich Josef von Christopher verabschiedet, krallt der sich an seiner Hose fest. »Als ob er mir sagen wollte: Bleib, Papa, ich will nicht zu dieser Frau«, sagt Josef heute. Natalie zieht Christopher an: zum ersten Mal die dunkelblaue Latzhose. Groß sieht er darin aus, »nicht mehr wie ein Baby«, denkt sie sich. Dann schiebt sie den Kinderwagen zur Tramhaltestelle, Linie 25, Richtung Ostfriedhof.

Der Kontrollverlust

Alexandra macht sich eine Tasse Tee, ihr ist kalt, den ganzen Morgen schon. Der Vortag steckt ihr in den Knochen. Heute hat um 5.40 Uhr der Wecker geklingelt. Sie hat geduscht, Brote mit Bärchenwurst und Gurke für die Töchter belegt, Mayra in den Kindergarten gebracht, Gemüse und Windeln eingekauft und sich zu Hause an den Kartoffelauflauf fürs Mittagessen gemacht. Um 9 Uhr ist Christopher gekommen. Er scheint ein bisschen wackelig auf den Beinen zu sein und möchte dauernd auf den Arm.

Kurz überlegt Alexandra, ob er vielleicht krank wird, doch dann verputzt er ein großes Stück Kartoffelauflauf. Nach dem Essen legt sie ihn ins Reisebettchen. Und tatsächlich: Christopher schläft ein. Alexandra ist erleichtert. Um 12.30 Uhr ruft das Jugendamt bei ihr an. Alexandra hatte vorschriftsmäßig gemeldet, dass Christopher Eingewöhnungsprobleme hat. Nun sagt sie: »Es ist alles okay.«

Um 13 Uhr wacht Christopher auf und weint. Alexandra geht ins Schlafzimmer, der Kleine nuckelt an seinen Fingern. Sie gibt ihm den Schnuller wieder. »Jetzt wird aber geschlafen«, sagt sie und muss an die schlimmen Stunden von gestern denken. Kaum ist sie wieder in der Küche, brüllt Christopher wieder. Jetzt steht er in seinem Bettchen, sie legt ihn hin, er sträubt sich und schreit.

Alexandra packt ihn mit beiden Händen unter den Achseln, hebt ihn hoch und schüttelt ihn zwei Mal vor und zurück. Plötzlich ist er still, wie vor Schreck. Sie legt ihn zurück ins Bettchen.Eine halbe Stunde später hört Alexandra ein Röcheln aus dem Kinderzimmer. Christopher hat sich übergeben. »Oh Gott, ich hab ihm das Genick gebrochen«, ist ihr erster Gedanke. Aber dann sagt sie sich, das kann ja gar nicht sein, er ist doch schon so groß. Um 14.38 Uhr ruft sie den Notarzt an.

Die Angst

Als Natalie aus der Trambahn steigt, sieht sie den Krankenwagen und rennt los. Vor fünf Minuten hatte Alexandra sie auf dem Handy angerufen, Christopher gehe es nicht gut. Natalie war ohnehin auf dem Weg, hatte sich auch keine großen Sorgen gemacht, doch jetzt wird ihr übel vor Angst. Christopher liegt im Kinderzimmer auf einer der Schlafmatten, die Hände und Füße zu Ballen verkrampft, die Augen geschlossen. Natalie küsst ihn auf die Stirn. Christopher reagiert nicht. Der Arzt spritzt ein krampflösendes Mittel, fragt Natalie, ob etwas vorgefallen sei. Die Masernimpfung ist das Einzige, was ihr einfällt. Sie schaut Alexandra an. Die Tagesmutter weint und schweigt.

Im Krankenwagen entspannt sich Christopher auf einmal. Er öffnet leicht die Augen, blickt seine Mutter an. »Komm, wach doch auf«, sagt der Arzt. »Wach doch auf!« Dann beginnen erneut die Krämpfe. Die Ärzte im Klinikum Harlaching rätseln, ob es eine Gehirnhautentzündung sein kann. Immer wieder fragen sie Natalie, ob etwas passiert sei. Sie geht die vergangenen Tage, Wochen, Monate durch: nichts, außer der Masernimpfung und einer Mittelohrentzündung. Sie schaut Alexandra an, die mitgefahren ist. Die Tagesmutter weint und sagt: »Nichts, ich schwör’s dir.«

Gegen 16 Uhr kommt Josef. Er findet seinen Sohn mit einem Schlauch vor dem Mund, an eine Beatmungsmaschine angeschlossen. Kurze Zeit später wird das Kind zu Spezialis-ten ins Klinikum nach Schwabing verlegt. Die Ärzte wollen den Druck in seinem Kopf mit einer Sonde messen. Dazu müssen sie ein Loch in die Schädeldecke bohren, Christopher könnte danach behindert sein. Die Karls unterschreiben die Erlaubnis für den Eingriff.

Die Ärzte vermuten jetzt, dass Christopher an einem Schütteltrauma leidet. Wenn der Kopf eines Kleinkindes ruckartig hin und her schlägt, kann es zu Blutungen im Hirngewebe kommen. Das Gehirn schwillt an und drückt von innen gegen die Schädeldecke. Den Ärzten bleibt nichts anderes übrig, als die Schädeldecke abzunehmen, damit sich das Gehirn ausdehnen kann. Wieder unterschreiben die Karls die Erlaubnis. Und warten über Nacht. Als der Chefarzt am nächsten Morgen im schwarzen Hemd kommt, wissen sie, dass es nicht geholfen hat.

Christopher muss noch 24 Stunden künstlich weiterversorgt werden, bis auch ein auswärtiger Mediziner den Hirntod feststellt. Am Samstag, den 27. September 2008, wird die Beatmungsmaschine abgeschaltet. Natalie hält ihren Sohn im Arm, die Ärzte haben ihm ein weißes Tuch auf den angeschwollenen Kopf geklebt. »Sein Körper wurde so schwer und steif«, sagt Natalie später. »Ich wollte ihn nicht mehr hergeben.«

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Das Landgericht München verurteilt Alexandra S. wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Natalie hatte auf eine höhere Strafe gehofft.)

Die Verhaftung

Am Montag, den 29. September, klingeln die Hauptkommissare Bastian und Fricke gegen 16 Uhr bei Alexandra S. Seit sie Donnerstagabend nach Hause gekommen ist, hat die Tagesmutter eine fürchterliche Ahnung. Im Internet hat sie den Begriff »Gehirnblutung« eingegeben und vor ihrem Kreuz in der Küche gebetet. Die Beamten sagen, das Kind sei möglicherweise aufgrund von Gewalteinwirkung zu Tode gekommen, und nehmen Alexandra fest. Es ist das letzte Mal, dass sie ihre beiden Töchter in ihrer Wohnung sieht.

Juni 2009

Das Landgericht München verurteilt Alexandra S. wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu fünf Jahren Haft. »Es ist nachvollziehbar, dass Sie unter der Trennung von Ihren Kindern leiden«, sagt der Richter. »Aber im Gegensatz zu den Karls werden sich Ihre Wünsche in absehbarer Zeit erfüllen.«

Seit Alexandras Verhaftung leben Patrizia und Mayra getrennt bei ihren Vätern, ohne Mutter, wie Alexandra früher selbst. Ihr Anwalt hat gegen das Urteil Revision eingelegt, »damit sie länger in München in U-Haft bleiben kann«. Wenn sie verlegt wird, ins Frauengefängnis nach Aichach, müssen die Töchter 70 Kilometer fahren, um ihre Mutter zu besuchen. Auch hat Alexandra Angst, dort als Kindsmörderin verschrien zu sein. »Natürlich kann man ihre Schuld nicht wegdiskutieren«, sagt ihr Anwalt. »Es war menschliches Versagen. Sie wird ihr ganzes Leben darunter leiden.«

Natalie hatte auf eine höhere Strafe gehofft. »Die Tagesmutter wollte Christopher durch Gewalt disziplinieren«, erklärt sie. Außerdem habe Alexandra im Krankenhaus nicht die Wahrheit gesagt. Seit Christophers Tod fühlen sich die Karls wie rausgeworfen aus ihrer alten Welt. Sie sind nach Grünwald gezogen, um nicht ständig an ihren Sohn erinnert zu werden. Seine Spielsachen nahmen sie dennoch mit. Den Kontakt zu ihren Freunden haben sie abgebrochen, weil sie es nicht ertragen können, sie mit ihren Kindern zu sehen. »Wir gehören jetzt zu unterschiedlichen Gemeinschaften«, sagt Natalie, »sie zu den Glücklichen, wir zu den Leidenden.«

Manche Menschen machen Natalie auch Vorwürfe: »Musstest du dein Kind abgeben?«, fragen sie. »Dann fühle ich mich schuldig, dabei habe ich nichts Böses getan.«Ihr Mann Josef wusste zuerst nicht, was er anstelle Christophers fotografieren sollte, und machte Bilder vom Himmel. E-Mails unterschreibt er mit »Josef Karl inkl. Schutzengel Christopher«. Sein Glaube gebe ihm Kraft, sagt Josef. Doch immer wenn er versuche, wie früher Späße zu machen, fühle er sich schlecht. Während des Prozesses hatte Josef auf mehr als die 10 000 Euro Schmerzensgeld gehofft, damit sie es »zumindest pekuniär leichter haben«. Die Karls müssen ihre neue Eigentumswohnung abbezahlen.

In einem Brief hat sich Alexandra bei den Karls entschuldigt und darum gebeten, später Christophers Grab besuchen zu dürfen. Im Gefängnis putzt sie den ganzen Tag, um müde zu werden. Manchmal träumt sie, dass sie Christopher im Kinderwagen schiebt. Sie wacht auf, wenn sie schreit: »Seht, er lebt! Es geht ihm gut.« Die Karls haben den Brief noch nicht beantwortet.

Natalie ist im achten Monat schwanger, die Karls bekommen wieder einen Sohn, in Grünwald haben sie sich bereits nach Krippenplätzen umgesehen, einer Tagesmutter wollen sie nicht mehr vertrauen. Die meisten Ehen würden an einer Tragödie, wie sie sie erlebt haben, zerbrechen, haben Psychologen ihnen gesagt. Die Karls hoffen, dass das neue Kind es schafft, sie zusammenzuhalten. Sie überlegen, ob sie ihren Sohn Christopher nennen.

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In Deutschland erleiden jedes Jahr rund 150 Kleinkinder ein Schütteltrauma. In der Hälfte der Fälle treten Folgeschäden von Lähmungen bis zu schweren geistigen Behinderungen auf, zehn bis zwanzig Kinder sterben, wie der kleine Christopher
aus der Geschichte von Gabriela Herpell und Christoph Cadenbach.

Foto: Niko Schmidt-Burgk