Der Pitcher-Mann

Unser Autor und seine Mutter mustern bei einem Pferderennen das Publikum – darunter ein männliches Exemplar mit riesigem Bierkrug. Schnell ist klar: Kaum etwas ist so schwierig, wie mit den eigenen Eltern über deren Vorlieben zu sprechen. 

Foto Erli Grünzweil

Nein, der nicht«, sagt meine Mutter.

Ich: »Mhm. Und was ist mit dem?«

»O Himmel, ganz schlimm, auf kei­nen Fall.«

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Ich bin mit meiner Mutter verreist. Wir sitzen auf der Tribüne des Hong Kong Jockey Club. Die Scheinwerfer ballern so grell auf die Trabrennbahn, als wolle der Lichttechniker zeigen, wie eine Nahtoderfahrung aussieht. Etwas Zeit ist noch bis zum Rennen, also begutachten wir das Aufgebot. Ein männliches Exemplar schreitet her. Amerikanische Herkunft, athletischer Körperbau, das Deckhaar mit Pomade zurück­gestriegelt. Wäre Spirit, der Zeichentrick-Mustang aus dem Wilden Westen, ein Mensch – voilà. Meine Mutter mustert die O-Beine des Mustang-Manns. Vielleicht ein Ex-Sportler? Möglicherweise ist auch der große Bierkrug in seiner Rechten schuld am watschelnden Gang. Ein Pitcher, also einer dieser Krüge randvoll mit Bier, die zu jeder amerikanischen Sportsbar gehören wie Flachbildglotzen und Herrenwitze. Die Herde des Mustang-Manns nimmt gierfreudig den Krug entgegen. Einer schlägt Spirit lachend auf die Flanke und murmelt einen Scherz. Ich erwarte ein Wiehern, werde aber enttäuscht.

Wir haben nie über Männer geredet. Einmal, weil meine Mutter 30 Jahre lang mit demselben Mann verheiratet war. Zum anderen fragen Kinder ihre chinesischen Eltern nie über Liebe und Beziehung, sondern andersherum. Das ist in jahrtausendealter Tradition verankert. Vermutlich hat schon Konfuzius die Heiratsanwärter seiner Tochter kreuzverhört: Wie viel verdienst du? Hast du ’ne Hütte? ’Ne Kutsche? Aber so ganz einwandfrei wurde das nie historisch nachgewiesen.

Seit mein Vater verstorben ist, reden wir oft über die Liebe. Vor ein paar Jahren habe ich meine Mutter mal bei einer Dating-App angemeldet. Wer sich noch nie durch dieses Dickicht geschlagen hat, stelle sich die Kommunikation mit meiner alten Gang vor, der Kobold-Gruppe der Kita »Lutherhaus«: Die Gespräche (vor allem mit Typen) sind eher einsilbig und einseitig, Intentionen werden über kleine Kritzeleien (Emojis) ausgedrückt. So bedeutet ein Pfirsich keinesfalls eine Begeisterung für Pfirsichsorbet oder die Sängerin Peaches. Vielmehr symbolisiert der Pfirsich ein ansehnliches Hinterteil und im Subtext die Paarungsbereitschaft des Gegenübers. Eine Aubergine zeigt nicht den Heißhunger auf Pasta alla Norma (mit frittierten Auberginen) oder die Einladung zur Diskussion, warum um Himmels willen die Aubergine im amerikanischen Englisch »Eggplant« heißt. Wo erinnert das Ding denn an ein Hühnerei? (Kurzes Googeln, aha: Die »Eggplant« ist wohl durch jahrelange Zucht aus der Eier-Form nach vorn gewachsen, man könnte sagen »erigiert«, was der digitalen Bedeutung der Aubergine eine neue Tiefe gibt.)

Nun ist das eine Sprache, die in der Dating-Generation meiner Mutter niemand spricht. Keiner der Männer weckt die Assozia­tion mit ansehnlichem Obst, eher erinnern die meisten an die Schonkost eines unterfinanzierten Krankenhauses. Diese Männer schicken Bildchen von glitzernden Rosen, über denen der rotierende, meistens ebenfalls glänzende Schriftzug »Ich liebe dich!!!« schwebt wie ein Damoklesschwert.

Wir gucken weiter den Leuten zu. »Wenn ich jemanden sehe, der mir gefällt, sage ich Bescheid.« Dann erzählt sie, wie mein Vater auch manchmal gezockt hat, mal Mahjong, mal Lotto, aber nur in Maßen! Einmal habe er 300 Euro gewonnen und dann alle zum Spanier eingeladen, weißt du noch? Weiß ich. War ja auch dabei. Nach zehn Minuten frage ich, ob sie überhaupt noch Ausschau hält. »Was? Jaja.« Wir setzen 20 Hongkong-Dollar auf ein Pferd namens »Happy Horse«, sie fand den Namen schön. Ein anderer Gaul gewinnt, aber das ist nicht schlimm. Ums Gewinnen ging es ja nicht.