Seit einiger Zeit kommt es regelmäßig vor, dass mich junge Menschen, zum Beispiel Schulklassen, fragen, ob ich ihnen etwas raten kann, ob ich zwei oder drei Tipps für ein gelungenes Leben habe. Ich impfe sie dann erst mal schamlos mit trotzkistischen Ideen, am Ende sage ich aber immer auch: »Esst mehr Gemüse, und esst bitte auch Zitrusfrüchte, damit ihr keinen Skorbut bekommt.«
Und wenn mein Sohn, der Kampfsportler ist und fast jeden Abend in den Ring steigt, die Avocado oder Paprika oder Orange zu seiner allabendlichen von Proteinen und Kohlenhydraten geprägten Riesenmahlzeit verweigert, kann ich schnell die Nerven verlieren.
»Herrgott noch mal, warum hab ich dich jahrelang Piratenfilme schauen lassen? Du brauchst Vitamin C, sonst – Skorbut!«
»Mama, Skorbut gibt’s doch gar nicht mehr.«
»Aber nur«, sage ich dann und hebe den Zeigefinger, »weil wir genug Vitamin C essen.«
Ich bin quasi unter Piraten aufgewachsen, ich habe tagelang vor meinem Plattenspieler gelegen und den Abenteuern von Klaus Störtebeker gelauscht, ich habe Die Schatzinsel gelesen und Bücher über Blackbeard, ich habe all die Filme mit Burt Lancaster und Errol Flynn gesehen, ich wollte sein wie Anne Bonny und Mary Read. Im Garten unseres Hauses lag damals, sehr zum Missfallen meiner Mutter, ein Berg aus Holzbohlen, die mein Vater immer noch mal »für irgendwas verwenden« wollte, und dieser Berg aus Brettern war mein Schiff. Ich saß stur obendrauf, oft in einem Pappkarton als Ausguck, ich war die Piratenkapitänin und schwänzte das Abendbrot, und wer auch immer vorbeikam, ob Großmutter oder Familienhund, wurde sofort schanghait und gehörte zur Crew.
Ich wusste also ganz genau, wie die schlimmsten Gefahren für eine Piratin hießen: Meuterei, Kanonen, geentert werden, am Galgen hängen und natürlich Skorbut, wobei Skorbut das war, was offenbar am ehesten zu vermeiden war. Piraten, die Skorbut bekamen, hatten irgendwas falsch gemacht, so suggerierten es die Geschichten. Ich wusste nur nicht, was.
Also interviewte ich meine Großmutter, bei Fragen von Leben und Tod und Zahnverlust lohnt es sich immer, auf die Großmutter zu hören. Sie presste mir zwei Orangen aus und dann noch die Hälfte von einer großen, eher rosafarbenen Frucht, ich war sehr gespannt, wie das schmecken würde.
»Hier«, sagte sie, als sie mir den Saft hinstellte, »wenn du das immer schön trinkst, bekommst du nie Skorbut, da ist ganz viel Vitamin C drin.«
Erwartungsfroh nahm ich einen Schluck, und was dann passierte, wird mein Nervenkostüm wohl nie vergessen, denn ausgehend von meinen Geschmacksnerven wurde es in diesem Moment wohl stahlgebürstet, es zog sich zu einem winzig kleinen Kern zusammen, meine Augen wiederum weiteten sich, durch mein ganzes System fuhr ein Schock, der in meiner kindlichen Wahrnehmung eine Ewigkeit zu dauern schien.
»OMA!«
»Ja?«
»Die bittere Monsterzitrone!«
»Das, mein Kind«, sagte sie, »war eine Grapefruit, und sie hat sehr viel Vitamin C.«
»Grapefruit ist eklig«, sagte ich und machte fortan einen großen Bogen um diese heftige Erfindung der Natur, aber Vitamin C war zu einer fixen Idee geworden, also nahm ich Unmengen von Orangen zu mir, oder wenigstens Zitronenlimonade.
Inzwischen, da ich dem damaligen Alter meiner Großmutter näher bin als dem meinen zu jener Zeit, greife ich allerdings wieder auf Grapefruits zurück, am liebsten als Saft, am liebsten frisch gepresst, am liebsten mit einem Schuss Campari und einer Scheibe Orange, als letzte Verteidigungslinie gegen Skorbut.